Litanei
Update from 22.03.2025
Im Diskurs über Digitalisierung begegnet uns regelmäßig die beinahe reflexhafte Betonung: »Digitalisierung ist kein Selbstzweck.« Diese Formulierung erscheint zunächst als unschuldige Klarstellung, doch bei näherer Betrachtung offenbart sie ein faszinierendes Spannungsfeld zwischen ausgesprochener Intention und verborgener Motivation.
Der Selbstzweck ist ein Feigenblatt. Unsere Diskursanalyse beginnt mit dem Begriff Selbstzwecknegation.
Der Begriff der Selbstzwecknegation verweist auf die rhetorische Strategie, etwas seinen Selbstzweckcharakter explizit abzusprechen, um es damit zu legitimieren. Diese Negation offenbart eine tiefere philosophische Problematik: Sie suggeriert, dass es überhaupt einen reinen Selbstzweck geben könnte, von dem sich das Negierte abgrenzen muss.
Indem wir der Digitalisierung ihren Selbstzweckcharakter absprechen, versuchen wir, sie als reines Mittel zu charakterisieren. Dies impliziert jedoch bereits eine bestimmte Vorstellung von Zweck-Mittel-Relationen, die selbst hinterfragt werden müssen. Die Behauptung »Digitalisierung ist kein Selbstzweck« verdeckt oft die Tatsache, dass digitale Technologien längst eine eigene Dynamik entwickelt haben, die über reine Instrumentalität hinausgeht.
Wir dürfen verstehen, dass diese Selbstzwecknegation auch als Fetischisierung verstanden werden kann. Indem wir der Digitalisierung den Selbstzweckcharakter absprechen, machen wir sie paradoxerweise zu etwas Übermenschlichem – einem scheinbar neutralen Werkzeug, das sich jeder moralischen Bewertung entzieht. Diese vermeintliche Neutralität ist jedoch selbst eine Form der Mystifizierung, die es zu durchbrechen gilt.
Die Rhetorik des Nicht-Selbstzwecks: Ursprung und Verbreitung
Der Ausspruch »Digitalisierung ist kein Selbstzweck« hat keinen eindeutig identifizierbaren Ursprung, sondern hat sich als wiederkehrendes Element im Digitalisierungsdiskurs etabliert. In zahlreichen Kontexten wird diese Formulierung als selbstverständliche Prämisse vorausgesetzt. Die rhetorische Figur findet sich nicht nur im Kontext der Digitalisierung. Vielmehr handelt es sich um ein wiederkehrendes Muster, mit dem wir beinahe reflexhaft auf Veränderungsprozesse reagieren. Etwas darf nicht um seiner selbst willen geschehen, sondern muss einem höheren Ziel dienen.
Kants Erbe: Der Mensch als einziger Selbstzweck
Die philosophische Tiefe dieses Diskurses erschließt sich im Rückgriff auf Kant. In seiner Ethik formuliert er die berühmte »Menschheitszweckformel«.
Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.
Der Mensch ist demnach der einzige legitime Selbstzweck, während alles andere instrumentellen Charakter hat und sich an diesem höchsten Wert messen lassen muss.
Die paradoxe Funktion der Nicht-Selbstzweck-Behauptung
Wenn wir nun jene Situationen genauer betrachten, in denen der Nicht-Selbstzweck-Charakter von etwas betont wird, ergibt sich ein paradoxer Befund: Die allgemeine Aussage »X ist kein Selbstzweck« wird besonders dort notwendig, wo X tatsächlich zum Selbstzweck zu werden droht oder bereits geworden ist. Der Verdacht liegt nahe, dass die Betonung des Nicht-Selbstzwecks wahrlich als Feigenblatt fungiert, wie es in politischen Debatten kritisch formuliert wird.
Die normative Dimension der Zwecksetzung
Jedes Handeln verfolgt einen Zweck. Alles Handeln hat Gründe. Die Behauptung, etwas sei kein Selbstzweck, impliziert jedoch, dass es einem normativ höherwertigen Zweck untergeordnet sein sollte. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, dass in der Rede vom Nicht-Selbstzweck eine verborgene Normativität liegt. Wer definiert, welche Zwecke legitim sind? Welche normativen Annahmen liegen der Behauptung zugrunde, Digitalisierung solle diesem oder jenem Zweck dienen?
Das zeigt sich etwa in der Art und Weise, wie wir in sozialen Medien und auf digitalen Plattformen zu unbezahlten Arbeitskräften werden. Während wir soziale Medien als Werkzeuge zur Kommunikation und Vernetzung wahrnehmen, sind wir tatsächlich die Produzenten von Daten, die monetarisiert werden. Diese versteckte Ökonomisierung unserer digitalen Aktivitäten wird durch die Behauptung verschleiert, dass diese Plattformen nur Werkzeuge zu unserem Nutzen seien. In Wahrheit sind wir die Arbeitskräfte, die durch ihr Verhalten, ihre Interaktionen und ihre Datenspuren Wert für die TEX generieren – während uns diese Wertschöpfung im Dunkeln gelassen wird. Auch, wenn wir das mittlerweile besser verstehen. Die ersten zwanzig Jahre sind längst herum.
Die Plattformen präsentieren sich als neutrale Infrastruktur, während sie in Wirklichkeit hochgradig interessengeleitete Systeme sind, die uns zum Mitteln ihrer Zwecke machen.
Diese Verdrehung – dass wir die Plattformen nutzen, während in Wahrheit die Plattformen uns nutzen – wird durch die stetige Betonung des Werkzeugcharakters dieser Technologien verdeckt.
Die digitale Selbsterkenntnis: Ein Ausweg aus dem Paradoxon
In Anlehnung an Kants Aufklärungsverständnis könnte eine »digitale Aufklärung« darin bestehen, die Digitalisierung nicht als uns beherrschende Technik und mechanische Werkzeuge, sondern als Ermöglichungsgrund von Freiheit zu begreifen. Damit würde die Digitalisierung nicht mehr als bloßes Mittel begriffen, das einem externen Zweck dient, sondern als Voraussetzung für die Entfaltung menschlicher Freiheit – und damit indirekt doch dem einzigen legitimen Selbstzweck im Sinne Kants: dem Menschen.
Professor Dr. Markus Gabriel argumentierte in einem Vortrag im Mai 2019 am ZKM →, dass die Digitalisierung an sich weder gut noch schlecht ist, sondern ein Werkzeug, das sowohl positive als auch negative Konsequenzen haben kann. Sie ist ein Produkt des menschlichen Strebens nach Selbstbestimmung und der Bewältigung der eigenen Unbestimmtheit.
Die Digitalisierung ermöglicht neue Formen der Selbstverwirklichung und des kreativen Ausdrucks, kann aber auch dazu verwendet werden, die Freiheit anderer einzuschränken oder zu manipulieren.
Die These, dass der Mensch das Tier ist, das keines sein will (rekurriert auf Nietzsche), steht im Zentrum seiner Argumentation. Der Mensch strebt nach Selbstbestimmung, und die Digitalisierung ist ein Instrument (Mittel), das sowohl zur Förderung als auch zur Unterdrückung dieser Selbstbestimmung eingesetzt werden kann. Die Verantwortung liegt daher in der ethischen und gesellschaftlichen Gestaltung der digitalen Welt.
Die Digitalisierung selbst ist vermutlich neutral, und ihre Auswirkungen hängen von der Art und Weise ab, wie sie genutzt wird. Eine verantwortungsvolle Nutzung erfordert ethisches Bewusstsein, gesellschaftlichen Diskurs und eine kritische Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Möglichkeiten und Gefahren. Damit steht bereits fest, dass »Digitalisierung, die kein Selbstzweck sein will«, dem Menschen dienen sollte. Ein digitaler Humanismus ist damit ein Wert, weil er beschreibt, was für Menschen als Menschen gilt.
Die ehrliche Zweckdiskussion
Statt reflexhaft zu betonen, dass Digitalisierung kein Selbstzweck sei, wäre es produktiver, offen die verschiedenen Zwecke zu diskutieren, die mit ihr verfolgt werden können. Dies würde einen transparenteren Diskurs ermöglichen, in dem auch die eigenen Interessen und Motivationen nicht hinter einem rhetorischen Feigenblatt verborgen werden müssen.
Vom Feigenblatt zur Freiheit
Die Betonung, dass etwas »kein Selbstzweck« sei, fungiert tatsächlich häufig als rhetorisches Feigenblatt. Sie verdeckt die Tatsache, dass wir in unseren Handlungen immer von bestimmten Zwecken geleitet werden – seien sie nun offen eingestanden oder nicht. Eine reflektierte Position würde anerkennen, dass die Digitalisierung unterschiedliche Zwecke erfüllen kann und sollte, und dass die Diskussion über diese Zwecke selbst ein wesentlicher Teil des Digitalisierungsprozesses sein muss.
Die wahre Herausforderung besteht nicht darin, die Digitalisierung einem abstrakten »höheren Zweck« unterzuordnen, sondern sie so zu gestalten, dass sie letztlich dem Menschen als Selbstzweck dient – nicht als technokratisches Projekt oder als Selbstläufer, sondern als Ermöglichung menschlicher Freiheit und Entfaltung.
In diesem Sinne wäre vielleicht die ehrlichere Formulierung: »Digitalisierung ist kein Selbstzweck – aber sie sollte in diesem Sinne dem Menschen als Selbstzweck dienen.«