Rationalismus ist eben keine Vernunft.
Dienstag, 14. Oktober 2025
Rationalismus ist keine Vernunft: Wir haben einfache, mechanische Zuverlässigkeit gegen komplexe Software-Eleganz eingetauscht und dabei vergessen, worauf es im entscheidenden Moment ankommt. Sicherheit sollte immer an erster Stelle stehen.
Kolumne
Wikipedia
Die Polizei in Chengdu meldete in den vergangenen Tagen den Unfall eines Xiaomi SU7 mit einem anderen Wagen und anschließenden Fahrzeugbrand. Einsatzkräfte scheiterten zunächst daran, die vermutlich elektronischen Türgriffe zu öffnen; der 31‑jährige Fahrer starb, es besteht Verdacht auf Alkoholeinfluss. Bilder und Videos des brennenden Wagens lösten Sicherheitsdebatten aus; chinesische Behörden erwägen Einschränkungen für solche Türgriffe, während in den USA eine Untersuchung zu ähnlichen Fällen läuft.
Ich denke an meinen alten Opel Ascona. Dessen Türgriff hatte genau eine Aufgabe: die Tür zu öffnen. Immer.
Neben dem gesunden Menschenverstand steckte dahinter eine Kultur der institutionalisierten Vernunft, verkörpert durch Organisationen wie TÜV, DEKRA oder Gremien wie die UNECE*. Ihre Regeln und Prüfverfahren waren die geronnene Erfahrung aus Jahrzehnten, basierend auf einer klaren Logik: Nach einem Unfall muss ein Mensch aus einem Auto befreit werden können. Simpel. Zuverlässig.
Heute scheinen wir dieses Prinzip in einem komplexen Abwägungsprozess neu zu gewichten. Es geht um Aerodynamik für ein paar Kilometer mehr Reichweite, um die bündige Ästhetik eines Tech-Devices und um die vollständige Integration in eine Software-Architektur. Der Türgriff ist kein rein mechanisches Bauteil mehr, sondern ein Knotenpunkt im Bordnetz – und damit eine Fehlerquelle, die im Ernstfall versagt, wenn der Strom ausfällt.
Vielleicht muss man aber auch den Kontext erweitern, um diese Entwicklung zu verstehen. Die Prioritäten in der Risikobewertung sind global nicht die gleichen. In unserem europäischen Sicherheitsdenken ist der Unfall die größte Gefahr. Ein von außen leicht zu öffnender Griff ist daher ein Rettungsanker. Was aber, wenn man ein Auto für einen Markt entwickelt, auf dem die größte Gefahr nicht der Crash, sondern der Überfall an einer roten Ampel in São Paulo ist? Dort wird ein von außen uneinnehmbares Auto plötzlich zum Sicherheitsfeature. Der elektronisch verriegelte, versenkte Griff, der keinen Ansatzpunkt bietet, ist dann kein Fehler, sondern Kalkül.
Wenn Hersteller versuchen, ein einziges Auto für all diese widersprüchlichen globalen Anforderungen zu bauen, entsteht eine gefährliche Komplexität.
Die bewährte, auf manuelle Bedienbarkeit und Rettung optimierte Vernunft wird durch andere, kontextabhängige Logiken überlagert und aufgeweicht. Der Vorfall in Chengdu zeigt auf die schrecklichste Weise den Preis dieses Kompromisses. Wir haben die simple, mechanische Zuverlässigkeit gegen eine komplexe, softwaregesteuerte Eleganz eingetauscht – und dabei vielleicht vergessen, worauf es im entscheidenden Moment wirklich ankommt. Die Frage nach den Einstellungen für den Scheibenwischer in einem Tesla zu finden, füllt ganze Foren im Internet. Ich sag es nur.
Rationalismus ist eben keine Vernunft.
…
UNECE (United Nations Economic Commission for Europe) ist die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa, die internationale Standards und Regelungen entwickelt – unter anderem für die Fahrzeugsicherheit. Im Kontext des Textes steht UNECE für eine Institution, die durch Prüfverfahren und Sicherheitsvorschriften (wie mechanische Türgriffe bei Unfällen) jahrzehntelange Erfahrung und technische Vernunft verkörpert.
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