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Entsolidarisierung

Entsolidarisierung beschreibt den Rückgang kollektiver Unterstützung in der Gesellschaft, hin zu individueller Eigenverantwortung, was zu einer Zunahme sozialer Ungleichheit und einer Schwächung staatlicher Sicherungssysteme führt. Die Verantwortung für soziale Risiken wird zunehmend als individuelles Problem wahrgenommen, während Marktlogiken dominieren.

Written by: Frank Stratmann

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Update from Jul 14, 2025

Entsolidarisierung beschreibt einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, bei dem die traditionellen Vorstellungen von gegenseitiger Unterstützung und kollektiver Absicherung innerhalb einer Gemeinschaft oder Gesellschaft abnehmen. Im Kern geht es um eine Verlagerung von der Idee, soziale Risiken gemeinsam zu tragen, hin zu einer Betonung der individuellen Eigenverantwortung; auch mit dem Verweis auf marktwirtschaftliche Prinzipien.

Entsolidarisierung bedeutet, dass sich der Einzelne zunehmend selbst um seine Absicherung kümmern muss, während die kollektiven Sicherungssysteme an Stärke verlieren.

Gleichzeitig diskutieren wir noch sehr zaghaft neue Solidaritätskonzepte wie die Datensolidarität. Das Sammeln von Gesundheitsdaten bietet maximalen Nutzen lediglich dann, wenn wir Wege finden, wie wir als Kollektiv Erkenntnisse aus den Daten gewinnen können, die bei der Bewältigung oder Früherkennung von Krankheiten helfen. Die Datenspende taucht im politischen Diskurs immer einmal wieder auf. Derzeit besteht allerdings große Skepsis, weil sich keine Solidarität im Umgang mit Gesundheitsdaten einstellen will. Eine systemische Ursache liegt im Diskurs um den Datenschutz. Die Deliberationen sind bestimmt vom maximalen Schutz für den Einzelnen, was einmal mehr unterstreicht, wie ›vereinzelt‹ wir bereits auf gesellschaftliche Konzepte schauen.

Fakten zur Entsolidarisierung

  • Zunehmende Individualisierung von Lebensrisiken: Krankheiten, Erwerbslosigkeit, Altersarmut – diese existenziellen Risiken werden immer mehr als individuelle Probleme wahrgenommen und behandelt, anstatt als gemeinsame gesellschaftliche Herausforderungen. Dies zeigt sich beispielsweise in der wachsenden Bedeutung privater Vorsorge in Bereichen wie Altersversorgung oder Krankenversicherung.

  • Wachsender Fokus auf Markteffizienz: Die Logiken des Marktes, wie Wettbewerb und Effizienz, dominieren zunehmend auch Bereiche, die traditionell durch soziale oder solidarische Überlegungen geprägt waren, wie das Gesundheits- oder Bildungssystem.

  • Anstieg sozialer Ungleichheit: Ein Kernbefund vieler Studien ist, dass eine zunehmende Entsolidarisierung oft mit einer Vertiefung sozialer Ungleichheit einhergeht. Wenn kollektive Sicherungssysteme erodieren, sind sozial schwächere Gruppen überproportional von den negativen Folgen betroffen, da ihnen die Mittel für individuelle Absicherung fehlen. In Deutschland zeigen Studien, dass insbesondere die Armutsgefährdung seit den 1990er Jahren kontinuierlich gestiegen ist.

  • Veränderte politische Diskurse: Der Diskurs um »Eigenverantwortung« hat in vielen westlichen Gesellschaften an Gewicht gewonnen, während die Forderung nach »Solidarität« manchmal als veraltet oder ineffizient abgetan wird. Dies kann sich auch in der Abschwächung von staatlichen Sozialleistungen oder der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen zeigen.

Die Richtung des Wandels: Individualisierung und Marktlogik

Die vorherrschende Richtung, in die sich die Gesellschaft im Zuge der Entsolidarisierung bewegt, ist eine fortschreitende Individualisierung und die Dominanz von Marktlogiken. Das bedeutet, dass persönliche Freiheit und Wettbewerb als primäre Werttreiber angesehen werden, auch in sozialen Belangen. Es entsteht die Erwartung, dass jeder Einzelne selbst für sein Wohlergehen verantwortlich ist und sich in einem zunehmend kompetitiven Umfeld behaupten muss. Die kollektive Verantwortung und das Gefühl des »Wir« treten dabei in den Hintergrund. Soziale Probleme werden nicht mehr als Ergebnis struktureller Ungleichheiten, sondern als Folge individuellen Versagens interpretiert.

Die Perspektive von John Rawls auf Entsolidarisierung

John Rawls, einer der bedeutendsten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, würde die Entsolidarisierung vermutlich äußerst kritisch betrachten. Aus seiner Theorie der Gerechtigkeit ergeben sich mehrere wesentliche Einwände gegen die beschriebenen Entwicklungen.

  • Verstoß gegen das Differenzprinzip: Rawls’ Gerechtigkeitstheorie basiert auf dem Gedanken, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie den am schlechtesten gestellten Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommen. Die Entsolidarisierung, die tendenziell zu größerer sozialer Ungleichheit führt, würde diesem Prinzip widersprechen.

  • Der Schleier des Nichtwissens: Rawls’ Gedankenexperiment des »Schleiers des Nichtwissens« fragt: Welche gesellschaftlichen Regeln würden Menschen wählen, wenn sie nicht wüssten, welche Position sie selbst in der Gesellschaft einnehmen werden? Unter diesen Bedingungen würden Menschen rationale Gründe haben, solidarische Strukturen zu bevorzugen, da sie selbst zu den Benachteiligten gehören könnten.

  • Fairness als Grundprinzip: Für Rawls ist Gerechtigkeit als Fairness das zentrale Prinzip einer wohlgeordneten Gesellschaft. Eine entsolidarisierte Gesellschaft, in der die Verantwortung für existenzielle Risiken zunehmend individualisiert wird, verstößt gegen dieses Fairnessprinzip, da nicht alle Mitglieder der Gesellschaft über die gleichen Mittel verfügen, um diese Risiken zu bewältigen.

Rawls würde argumentieren, dass in einer gerechten Gesellschaft bestimmte Grundgüter wie Gesundheitsversorgung, Bildung und soziale Sicherheit für alle gewährleistet sein müssen, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit oder ihrem sozialen Status.

Entsolidarisierung als negative Meta-Gewissheit

Die Entsolidarisierung kann als eine Meta-Gewissheit verstanden werden, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen manifestiert und tiefgreifende Auswirkungen auf das soziale Gefüge hat. Als negative Tendenz im Zuge einer Synthese betrachtet, ergeben sich folgende Erkenntnisse.

  • Dialektischer Prozess: Die Entsolidarisierung kann als Antithese zu früheren solidarischen Gesellschaftsmodellen verstanden werden. Im Sinne einer Hegelschen Dialektik könnte dies zu einer neuen Synthese führen, die weder vollständig individualistisch noch kollektivistisch ist, sondern neue Formen der Gemeinschaftlichkeit entwickelt.

  • Systemische Widersprüche: Die fortschreitende Individualisierung erzeugt Widersprüche, da sie einerseits mehr Freiheit verspricht, andererseits aber zu neuen Abhängigkeiten und Unsicherheiten führt. Diese Widersprüche könnten langfristig zu einer Neubewertung solidarischer Werte führen.

  • Übergang zu neuen Solidaritätsformen: Die aktuelle Entsolidarisierung könnte als Übergangsphase zu neuen, zeitgemäßeren Formen der Solidarität verstanden werden. Das Beispiel der Datensolidarität deutet an, dass in bestimmten Bereichen bereits neue kollektive Ansätze diskutiert werden, die den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Rechnung tragen.

In diesem Sinne könnte die negative Tendenz der Entsolidarisierung langfristig zu einer Synthese führen, in der sowohl individuelle Freiheit als auch kollektive Verantwortung neu definiert und in ein produktives Gleichgewicht gebracht werden. Diese Synthese würde nicht zu den traditionellen Formen der Solidarität zurückkehren, sondern neue Wege des gesellschaftlichen Zusammenhalts entwickeln, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden.

Das Beziehungsgeflecht der sozialen Absicherung

Die Entsolidarisierung wirkt sich auf ein komplexes Beziehungsgeflecht aus, das die soziale Absicherung einer Gesellschaft bildet. Dieses Geflecht umfasst traditionell die Verbindungen zwischen Bürgern, dem Staat, der Familie und zivilgesellschaftlichen Organisationen. In einer sich entsolidarisierenden Gesellschaft verschieben sich diese Beziehungen.

  • Schwächung der staatlichen Rolle: Der Staat zieht sich tendenziell aus bestimmten Bereichen der sozialen Absicherung zurück oder delegiert Verantwortlichkeiten an private Akteure oder das Individuum. Dies kann sich in Kürzungen von Sozialleistungen oder der Förderung privater Vorsorge zeigen.

  • Belastung familiärer und privater Netzwerke: Wenn die staatliche und gemeinschaftliche Sicherung wegfällt, lastet mehr Verantwortung auf familiären und privaten Netzwerken. Dies kann zu einer Überforderung dieser Strukturen führen, insbesondere bei gleichzeitigem demografischem Wandel und veränderten Familienstrukturen.

  • Herausforderung für zivilgesellschaftliches Engagement: Obwohl zivilgesellschaftliche Akteure oft versuchen, Lücken in der sozialen Absicherung zu füllen, können sie die strukturellen Auswirkungen der Entsolidarisierung allein kaum kompensieren.

Dieses Beziehungsgeflecht ist wie ein soziales Gleichgewichtssystem, das die Lasten und Verantwortlichkeiten innerhalb einer Gesellschaft verteilt. Die Entsolidarisierung verschiebt dieses Gleichgewicht und kann zu Instabilität und Ungleichheit führen, da bestimmte Akteure (insbesondere der Einzelne) überproportional belastet werden.

Die Dynamik des gesellschaftlichen Zusammenhalts

Betrachtet man die Entsolidarisierung als Teil eines umfassenderen Prozesses, so handelt es sich um eine Dynamik des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Hier geht es nicht nur um statische Beziehungen, sondern um die Veränderung von Werten, Normen und Verhaltensweisen über die Zeit. Dieses dynamische Feld wird von verschiedenen Kräften beeinflusst.

  • Wirtschaftliche Faktoren: Globalisierung, technologische Entwicklungen und der Wandel der Arbeitswelt können zu Unsicherheiten führen, die den Ruf nach mehr Eigenverantwortung verstärken, aber auch die Notwendigkeit solidarischer Sicherungssysteme aufzeigen.

  • Politische Entscheidungen: Gesetzgebung, Sozialreformen und die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik spielen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des Grades an Solidarität in einer Gesellschaft.

  • Kultureller Wandel: Eine zunehmende Betonung individualistischer Werte, Konsumismus und ein schwindendes Gefühl der Gemeinschaft können die Bereitschaft zur Solidarität untergraben.

Diese Dynamik des gesellschaftlichen Zusammenhalts zeigt, wie die Entsolidarisierung nicht nur ein Phänomen, sondern ein aktiver Prozess ist, der das soziale Gefüge ständig neu formt. Die Herausforderung für eine Gesellschaft besteht darin, Strategien zu entwickeln, um die negativen Auswirkungen dieser Dynamik zu minimieren und Wege zu finden, den Zusammenhalt und die Widerstandsfähigkeit im Angesicht dieser Veränderungen zu stärken.

Dies erfordert eine bewusste Auseinandersetzung mit der Rolle von Gemeinschaft, Staat und Individuum in der Bewältigung zukünftiger sozialer Herausforderungen.

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