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ID ueberwachungskapitalismus
Phase: Ideologie
Überwachungskapitalismus
Überwachungskapitalismus nutzt persönliche Daten zur Vorhersage und Beeinflussung menschlichen Verhaltens, was die Autonomie gefährdet und demokratische Werte untergräbt. Die Entwicklung von der Aufmerksamkeits- zur Intimitätsökonomie führt zu emotionaler Manipulation und einem Verlust kritischen Denkens, während Privatsphäre als Hindernis für Optimierung betrachtet wird. Zuboff fordert Regulierungen zum Schutz digitaler Autonomie und ein Umdenken im Umgang mit Technologie.
Written by: Frank Stratmann
Medientheorie
Update from Jul 8, 2025
Der Begriff »Überwachungskapitalismus« wurde maßgeblich durch Shoshana Zuboff in ihrem bahnbrechenden Werk »Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus« geprägt. Dieses Konzept beschreibt eine neuartige ökonomische Ordnung, die persönliche Daten als Handelsgut nutzt, um daraus Vorhersagen über menschliches Verhalten zu generieren und diese zu beeinflussen. Im Kern dieses Systems steht ein Mechanismus, der über die bloße Datensammlung hinausgeht und tief in die Autonomie des Menschen eingreift.
Der Verhaltensüberschuss als ökonomische Ressource
Zuboff definiert den »Verhaltensüberschuss« als jene Daten, die bei der Nutzung digitaler Dienste unbeabsichtigt anfallen und weit über den eigentlichen Verwendungszweck hinausgehen. Diese Daten bilden die Grundlage des Überwachungskapitalismus.
Der Verhaltensüberschuss entsteht als Nebenprodukt unserer alltäglichen digitalen Interaktionen – sei es bei der Nutzung von Suchmaschinen, sozialen Medien oder vernetzten Geräten.
Diese Daten werden systematisch gesammelt, analysiert und zu Vorhersageprodukten verarbeitet, die Nutzerverhalten nicht nur prognostizieren, sondern zunehmend auch beeinflussen können.
Die Sammlung erfolgt häufig ohne explizites Wissen oder echte Zustimmung der Betroffenen – ein Aspekt, den Zuboff besonders kritisch beleuchtet.
Der Überwachungskapitalismus hat raffinierte Mechanismen entwickelt, um den Verhaltensüberschuss zu extrahieren und zu monetarisieren.
Die Datenerfassung erfolgt unter Bedingungen extremer Informationsasymmetrie. Während Tech-Unternehmen detaillierte Einblicke in unser Leben gewinnen, bleiben ihre eigenen Operationen weitgehend undurchsichtig. Diese Intransparenz ermöglicht es, Daten zu sammeln, die weit über das für den Dienst Notwendige hinausgehen – von Standortdaten über Browsing-Verhaltebis zuzu emotionalen Zuständen, die aus Tonfall oder Tippmustern abgeleitet werden können.
Dabei verfeinern sich die Methoden zur Datenerfassung kontinuierlich. Computer bewerten mittlerweile »menschliches Verhalten anhand der Stimmlage bei Telefonaten, der Bewegungen beim Entfernen vom Arbeitsplatz oder dem Gang in die Kantine, dem Flüstern beim Gespräch oder der Nervosität in der Stimme«. Diese umfassende Verhaltensanalyse wird durch immer subtilere und allgegenwärtige Sensoren ermöglicht.
Besonders beunruhigend ist die von Harari beschriebene Entwicklung von der → Aufmerksamkeitsökonomie zur Intimitätsökonomie. In diesem nächsten Stadium dringen Algorithmen in unsere intimsten Lebensbereiche ein:
In den 2010er Jahren waren die sozialen Medien ein Schlachtfeld, auf dem um menschliche Aufmerksamkeit gekämpft wurde. In den 2020er Jahren wird sich dieser Kampf wahrscheinlich von der Aufmerksamkeit zur Intimität verlagern.
Diese intime Beziehung zwischen Mensch und Maschine schafft neuartige Beeinflussungsmöglichkeiten, die weit über herkömmliche Werbung hinausgehen. »Die Macht der Vertrautheit« wird zum Werkzeug der Manipulation.
Prädiktive Analytik und Verhaltensmodifikation
Der ultimative Zweck der Datensammlung liegt nicht nur in der Vorhersage, sondern in der aktiven Steuerung von Verhalten. Überwachungskapitalisten entwickeln zunehmend Fähigkeiten, um:
Künftiges Verhalten mit hoher Präzision vorherzusagen
Subtile Anreize zu schaffen, die Nutzer in bestimmte Richtungen lenken
Emotionale Reaktionen zu provozieren, die weitere verwertbare Daten generieren
Gemeinschaftliches Verhalten in sozialen Netzwerken zu beeinflussen
Die gesellschaftlichen Implikationen
Die Auswirkungen des Überwachungskapitalismus erstrecken sich weit über wirtschaftliche Aspekte hinaus und bedrohen grundlegende gesellschaftliche Werte. Besonders besorgniserregend ist die Machtkonzentration in den Händen weniger Tech-Giganten, die laut Zuboff eine fundamentale Gefahr für demokratische Institutionen darstellt. Durch personalisierte Einflusskampagnen können Millionen von Menschen subtil gesteuert werden, was die Grundprinzipien demokratischer Entscheidungsfindung systematisch untergräbt.
Überwachungskapitalismus als Antagonist der Aufklärung
Der Überwachungskapitalismus steht in einem fundamentalen Widerspruch zu den Idealen der Aufklärung. Während die Aufklärung die Bedeutung von Vernunft, kritischem Denken und dem kausalen Verstehen betont, baut der Überwachungskapitalismus auf emotionale Erregung, Aufmerksamkeitsbindung und intransparente Beeinflussung.
Die hier skizzierte Entwicklung vom »digitalen Orakel« findet ihre Entsprechung in der Logik des Überwachungskapitalismus. An die Stelle des aufklärerischen »Verstehen-Wollens« tritt zunehmend eine passive Akzeptanz von Systemen, deren Funktionsweise wir nicht durchschauen. Wenn wir als Anwender sagen, wir verwenden KI auch dann, wenn wir sie nicht verstehen, wirkt sich genau diese Intransparenz auf das Ausschalten der kritischen Vernunft aus, was ein Kernmerkmal des Überwachungskapitalismus ist.
In seiner Funktionsweise benötigt der Überwachungskapitalismus die Vermarktung von Erregung. Während die Aufklärung auf rationale Auseinandersetzung setzt, gedeiht der Überwachungskapitalismus durch emotionale Reaktionen und »affektive Treiber«, die mehr Daten, mehr Engagement und damit mehr Verhaltensüberschuss generieren. Diese Emotionalisierung steht im direkten Gegensatz zum aufklärerischen Ideal des »sapere aude« – des Muts, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.
Die Warnung vor einer »Intoxikation des Nervensystems einer Gesellschaft« durch manipulierte Kommunikation erhält im Kontext des Überwachungskapitalismus eine besondere Brisanz. Die Verschiebung von der Aufmerksamkeitsökonomie zur Intimitätsökonomie verschärft diesen Konflikt weiter. Die intimsten Bereiche des menschlichen Lebens werden zu Rohstoffen für Vorhersageprodukten, ohne dass die Betroffenen die Mechanismen dahinter verstehen oder kontrollieren können.
Besonders problematisch ist der »Bruch zur Aufklärung«, der durch diese Entwicklungen entsteht. Die Aufklärung betonte die Bedeutung von Kausalität – dem Verstehen von Ursache und Wirkung. Der Überwachungskapitalismus hingegen operiert in einer Blackbox-Logik. Diese Entwicklung untergräbt das aufklärerische Projekt an seiner Wurzel und ersetzt kritisches Denken durch algorithmische Steuerung.
Parallel dazu erleben wir eine beunruhigende Neudefinition der Privatsphäre. Im Überwachungskapitalismus wird sie nicht mehr als schützenswertes Grundrecht betrachtet, sondern zunehmend als Hindernis für ein vermeintlich »besseres«, »optimiertes« Leben umgedeutet. Diese Perspektivverschiebung legitimiert das kontinuierliche Eindringen in immer intimere Lebensbereiche und die umfassende Vermessung menschlichen Verhaltens.
Besonders alarmierend sind die Anzeichen für die Entstehung eines »Techno-Faschismus«, bei dem die technologische Infrastruktur für intime und einflussreiche KI-Systeme in den Händen weniger mächtiger Akteure konzentriert wird. Diese Entwicklung könnte in eine Gesellschaft münden, die von subtiler, allgegenwärtiger Kontrolle durch technologisch vermittelte Beeinflussung geprägt ist – eine Form der Machtausübung, die umso gefährlicher ist, weil sie oft unsichtbar und schwer fassbar bleibt.
Ausblick und kritische Reflexion
Die Zukunft des Überwachungskapitalismus erscheint offen, doch die Tendenzen sind besorgniserregend. Bereits heute sehen wir eine zunehmende Verflechtung von kommerzieller Datensammlung und staatlicher Überwachung. Die Technologie entwickelt sich schneller als die gesellschaftlichen Mechanismen zu ihrer Kontrolle.
Zuboffs Werk ist letztlich ein Aufruf zum Widerstand gegen diese Entwicklung. Sie fordert neue Gesetze und Regulierungen zum Schutz unserer digitalen Autonomie und ein Umdenken im Verhältnis zu Technologie und Daten. Die zentrale Frage bleibt, ob unsere Gesellschaft die notwendige Resilienz entwickeln kann, um die Herausforderungen des Überwachungskapitalismus zu bewältigen und eine menschenzentrierte digitale Zukunft souverän zu gestalten.
ID ueberwachungskapitalismus
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