Medientheorie

Systemische Ursache

Mensch

aufmerksamkeitsoekonomie

Phase: Systemische Ursache

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Aufmerksamkeitsökonomie

Die Aufmerksamkeitsökonomie betrachtet menschliche Aufmerksamkeit als wertvolle Ressource in einer informationsreichen Gesellschaft. Emotionale Erregung wird gezielt genutzt, um Aufmerksamkeit zu binden, was zu einer Verzerrung zugunsten polarisierender Inhalte führt und gesellschaftliche Herausforderungen wie Stress und dysfunktionale Dynamiken schafft. Gegenstrategien umfassen digitale Ethik, aufmerksamkeitsbewusste Technologien und Medienkompetenz.

Verfasst von: Frank Stratmann

Medientheorie

Update vom 08.07.2025

Die Aufmerksamkeitsökonomie beschreibt ein ökonomisches Paradigma, das die menschliche Aufmerksamkeit als knappe und daher ökonomisch wertvolle Ressource betrachtet. In einer Informationsgesellschaft, die von Überfluss und nicht von Knappheit geprägt ist, wird Aufmerksamkeit zum limitierenden Faktor – und damit zum begehrten Gut.

Theoretische Grundlagen

Der Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie wurde maßgeblich von dem Ökonomen Herbert A. Simon geprägt, der bereits 1971 bemerkte: »In einer informationsreichen Welt bedeutet Informationsreichtum einen Mangel an etwas anderem: dem, was die Information verbraucht. Was Information verbraucht, ist offensichtlich: die Aufmerksamkeit ihrer Empfänger.«

Michael Goldhaber erweiterte dieses Konzept in den 1990er Jahren und argumentierte, dass wir uns von einer materiellen Ökonomie zu einer Aufmerksamkeitsökonomie bewegen, in der die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu erlangen und zu binden, zum primären Wertmaßstab wird.

Die Bewirtschaftung emotionaler Erregung

Zentral für die Aufmerksamkeitsökonomie ist die systematische Bewirtschaftung emotionaler Erregungszustände. Medien, Plattformen und Unternehmen haben erkannt, dass emotionale Reaktionen – insbesondere starke Gefühle wie Empörung, Überraschung oder Begeisterung – besonders effektiv Aufmerksamkeit binden. Dies führt zu einer gezielten Optimierung von Inhalten nach ihrer Fähigkeit, emotionale Erregung zu erzeugen.

Die Mechanismen dieser Bewirtschaftung umfassen:

  • Algorithmenbasierte Kuratierung: Algorithmen lernen, welche Inhalte maximale Nutzerinteraktion erzeugen, und priorisieren diese – oft sind es jene, die starke emotionale Reaktionen hervorrufen.

  • Emotionales Design: Nutzeroberflächen und Interaktionsmuster werden gezielt darauf ausgerichtet, emotionale Belohnungssysteme anzusprechen und dadurch längere Nutzungszeiten zu fördern.

  • Konfliktakzentuierung: Die Hervorhebung und teilweise Verstärkung kontroverser Positionen, um emotionale Beteiligung und damit verlängerte Aufmerksamkeitsspannen zu erzielen.

  • Dopaminschleifen: Die Schaffung von Belohnungsmechanismen (Likes, Kommentare, Shares), die neurochemische Reaktionen auslösen und suchtähnliche Verhaltensmuster fördern können.

Digitaler Tribalismus

Diese Psychologie als Massenphänomen überträgt sich auf die Idee vom digitalen Tribalismus, der die Entstehung von Online-Gemeinschaften mit starker gemeinsamer Identität und Abgrenzung von Außenstehenden beschreibt. Diese Gruppendynamik wird durch die → Digitaler Tribalismus Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie verstärkt. Algorithmen fördern polarisierende Inhalte und verstärken Echokammern, in denen sich gleich gesinnte Nutzer gegenseitig bestätigen.

Dabei muss niemand bewusst entscheiden, zu einer Gruppe gehören zu wollen. Es passiert unbewusst.

Ein weiterer psychologischer Faktor in diesem Kontext ist FOMO (Fear Of Missing Out) – die Angst, etwas zu verpassen. Diese Angst treibt Nutzer dazu, kontinuierlich online zu bleiben und mit ihrer digitalen Stammesgemeinschaft verbunden zu sein. Die Aufmerksamkeitsökonomie nutzt FOMO gezielt aus, indem sie durch Echtzeit-Benachrichtigungen, temporäre Inhalte und soziale Bestätigung ein Gefühl der Dringlichkeit erzeugt, was die Bindung an digitale Stämme weiter verstärkt.

Überwachungskapitalismus

Der → Überwachungskapitalismus, ein Begriff geprägt von Shoshana Zuboff, beschreibt ein Geschäftsmodell, das auf der systematischen Erfassung, Analyse und Monetarisierung von Nutzerdaten basiert. Als Extremform der Aufmerksamkeitsökonomie geht es nicht nur um das Binden von Aufmerksamkeit, sondern auch um die Prognose und Manipulation von Verhalten. Dabei werden die bei der Aufmerksamkeitsbindung gewonnenen Daten zum eigentlichen Produkt, das an Werbetreibende und andere Interessenten verkauft wird.

Kritische Implikationen

Die Ökonomisierung der Aufmerksamkeit durch emotionale Erregung führt zu einer Reihe gesellschaftlicher Herausforderungen:

Erstens entsteht eine strukturelle Verzerrung zugunsten emotional aktivierender, oft polarisierender Inhalte, was zur fragmentierten öffentlichen Debatte beiträgt. Wie der Medientheoretiker Bernhard Pörksen es formuliert: »Die Aufmerksamkeitsökonomie privilegiert das Laute gegenüber dem Leisen, das Extreme gegenüber dem Ausgewogenen.«

Zweitens führt die kontinuierliche Bewirtschaftung emotionaler Erregung zu kognitiven und emotionalen Belastungen. Das permanente Ansprechen von Erregungs- und Alarmzuständen kann Stress verstärken und zu einer Art emotionaler Ermüdung führen.

Drittens entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen ökonomischer Rationalität (Maximierung von Aufmerksamkeit) und gesellschaftlichem Wohlbefinden. Was aus Perspektive der Aufmerksamkeitsökonomie rational erscheint, kann aus gesellschaftlicher Perspektive dysfunktional sein.

Gegenstrategien und Ausblick

Angesichts der problematischen Aspekte der Aufmerksamkeitsökonomie formieren sich verschiedene Gegenstrategien:

  • Digitale Ethik: Die Entwicklung ethischer Rahmenbedingungen für die Gestaltung aufmerksamkeitsbindender Systeme.

  • Aufmerksamkeitsbewusste Technologien: Konzepte wie ›Calm Technology‹, die nicht auf Maximierung, sondern auf Qualität der Aufmerksamkeit abzielen.

  • Bildung und Medienkompetenz: Die Förderung eines bewussten Umgangs mit aufmerksamkeitsbindenden Mechanismen.

  • Alternative Metriken: Die Entwicklung von Erfolgskennzahlen jenseits reiner Aufmerksamkeitsmaße, die qualitative Aspekte der Interaktion berücksichtigen.

Die Aufmerksamkeitsökonomie stellt eine fundamentale Herausforderung für die digitale Gesellschaft dar. Die kritische Reflexion ihrer Mechanismen – insbesondere der systematischen Bewirtschaftung emotionaler Erregung – ist unerlässlich, um ihre Dynamiken zu verstehen und konstruktiv zu gestalten.

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Frank Stratmann

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Ich bin Frank Stratmann – ein Cultural-Foresight-Analyst und Designer für deliberative Kommunikation.
Bekannt als @betablogr.

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