Digital Humanism

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ISBN 9783446259560

Die große Gereiztheit

Bernhard Pörksen analysiert in Die große Gereiztheit die Krisen der digitalen Medien und fordert eine verantwortungsvolle Medienkultur.

Written by: Redaktion

BTBLGR-LIT-4

Update from 3/4/25

Die Redaktionelle Gesellschaft

Prinzipien und Verantwortung in der digitalen Medienwelt

Die vernetzte Welt des 21. Jahrhunderts existiert in einem Zustand permanenter Erregung, geprägt von beschleunigten Informationsströmen, fragmentierten Öffentlichkeiten und der Auflösung traditioneller Gatekeeper-Strukturen. Bernhard Pörksen analysiert in Die große Gereiztheit die Krisen der digitalen Medienordnung – von der Wahrheits- und Diskurskrise bis zur Reputations- und Autoritätskrise – und entwirft als Antwort die Utopie einer redaktionellen Gesellschaft. Diese Vision zielt auf eine Kultur der Medienmündigkeit, in der jeder Einzelne die Prinzipien journalistischer Sorgfalt verinnerlicht und die Verantwortung für die eigene Rolle als Sender und Empfänger von Informationen übernimmt.

Im Zentrum stehen dabei die ethischen Abwägungen zwischen Freiheit und Verantwortung, Transparenz und Privatsphäre, Autonomie und Regulierung.

Die Krisen der digitalen Medienordnung als Ausgangspunkt

Wahrheitskrise: Die Fragilität von Gewissheit

Die Digitalisierung hat die Produktion und Verbreitung von Informationen demokratisiert, doch gleichzeitig die Fundamente von Wahrheit und Glaubwürdigkeit erschüttert. Pörksen beschreibt den modernen „Turing-Test“ des digitalen Zeitalters: Jeder Nutzer muss täglich entscheiden, ob er es mit menschlicher Kommunikation, algorithmisch generierten Inhalten oder gezielter Desinformation zu tun hat1. Das Beispiel des fiktiven Entführungsfalls der 13-jährigen Lisa – der sich als mediale Inszenierung entpuppte, aber zu internationalen diplomatischen Verwerfungen führte – verdeutlicht, wie Gerüchte in Echokammern zu gefühlten Realitäten mutieren und klassische Medien an Deutungshoheit verlieren. Die Folge ist eine gefühlte Manipulation, die Misstrauen schürt und den gesellschaftlichen Diskurs vergiftet.

Diskurskrise: Der Verlust zivilisierender Filter

In der „Empörungsdemokratie“ (Pörksen) prallen Narrative ungefiltert aufeinander. Soziale Netzwerke ermöglichen es radikalen Positionen, sich ohne journalistische Einhegung zu verbreiten – ein Phänomen, das im „Fall Lisa“ durch die gezielte Instrumentalisierung russischer Staatsmedien und rechtsextremer Gruppen sichtbar wurde. Die Schwächung traditioneller Gatekeeper führt zu einer Polarisierung, in der Debatten nicht mehr um Konsens, sondern um maximale Erregung kreisen. Pörksen spricht von einer „fnften Gewalt“ vernetzter Vielen, die Macht durch Skandalisierung ausübt, aber kaum Verantwortung für die Folgen trägt1.

Autoritätskrise: Die Entzauberung von Institutionen

Digitale Medien entlarven die Fehlbarkeit von Autoritäten in Echtzeit. Politiker, Wissenschaftler oder Journalisten verlieren ihr Charisma, sobald private Fehltritte oder intellektuelle Widersprüche viral gehen. Diese „Schmerzen der Sichtbarkeit“ (Pörksen) untergraben das Vertrauen in Institutionen und schaffen ein Vakuum, das von Populisten und Verschwörungsideologen gefüllt wird. Die Konsequenz ist ein Teufelskreis aus Zynismus und weiterer Entsolidarisierung.

Prinzipien der redaktionellen Gesellschaft

Publikationsethik: Verantwortung als neue Allgemeinbildung

Pörksen fordert eine „Ethik des Veröffentlichens“, die über den Journalismus hinausreicht. Jeder Nutzer soll lernen, die Grundfragen redaktioneller Arbeit – Quellenprüfung, Transparenz, Relevanz – auf sein Handeln anzuwenden. Dies umfasst:

Recherchepflicht: Die Überprüfung von Fakten vor dem Teilen, selbst wenn dies Zeit kostet.

Kontextualisierung: Das Vermeiden von Zitaten aus dem Zusammenhang und das Aufzeigen größerer Zusammenhänge.

Fehlerkultur: Die Korrektur von Falschinformationen statt defensiver Rechtfertigung.

Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der die „publizistische Verantwortungszone“ (Pörksen) nicht mehr allein Profis vorbehalten ist, sondern zur kollektiven Praxis wird1.

Dialogischer Journalismus: Vom Gatekeeper zum Moderator

Klassische Medien müssen sich vom Anspruch verabschieden, alleinige Deutungshoheit zu besitzen. Stattdessen sollten sie als Moderatoren fungieren, die unterschiedliche Perspektiven vermitteln und transparent über Entscheidungsprozesse berichten. Pörksen plädiert für einen „Journalismus auf Augenhöhe“, der:

  • Leser in Recherchen einbindet (z. B.urch Crowdsourcing),

  • Algorithmen offenlegt, die Nachrichtenauswahl steuern,

  • Eigene Fehler und Interessenkonflikte kommuniziert.

Dies erfordert eine Abkehr von der „asymmetrischen Kommunikation“ (Pörksen), in der Journalisten als unfehlbare Autoritäten auftreten1.

Plattformverantwortung: Regulierung und Selbstkontrolle

Soziale Netzwerke agieren oft als „Erregungsmaschinen“, die durch Clickbait und emotionale Inhalte Profit maximieren. Pörksen schlägt einen Plattformrat vor – ein Selbstkontrollgremium analog zum Presserat –, der ethische Standards für Algorithmen entwickelt und Verstöße sanktioniert. Zentral sind dabei:

  • Transparenz der Filter: Nutzer müssen erfahren, warum ihnen bestimmte Inhalte angezeigt werden.

  • Bekämpfung von Bots und Fake-Accounts: Plattformen müssen in die Pflicht genommen werden, manipulative Akteure zu identifizieren.

  • Schutz der Privatsphäre: Die Sammlung und kommerzielle Nutzung von Daten muss begrenzt werden.

Vorschläge für eine erweiterte Verantwortung

Medienmündigkeit als Schulfach

Pörksen fordert ein eigenes Unterrichtsfach, das kritische Informationskompetenz vermittelt. Dies umfasst:

  • Mediengeschichte: Vom Buchdruck zur KI, um Machtstrukturen zu verstehen.

  • Praktische Irrtumswissenschaft: Schüler analysieren eigene Filterblasen und experimentieren mit Manipulationstechniken.

  • Ethik der Publikation: Rollenspiele, in denen Entscheidungen über das Teilen von Inhalten debattiert werden.

Ein solches Fach wäre keine technische Anleitung, sondern eine „Schule der Urteilskraft“ (Pörksen), die Empathie für die Folgen von Kommunikation schärft1.

Die Ambivalenz der Skandalisierung

Am Beispiel des #Aufschrei-Hashtags zeigt sich die Doppelnatur digitaler Empörung: Einerseits machte er strukturellen Sexismus sichtbar, andererseits führte er zu pauschalen Denunziationen. Pörksen betont, dass eine redaktionelle Gesellschaft lernen muss, zwischen berechtigter Kritik und destruktiver Hetze zu unterscheiden. Dies erfordert:

  • Kontextsensitive Moderation: Plattformen müssen differenzieren, ob eine Äußerung Teil einer berechtigten Debatte oder gezielte Herabwürdigung ist.

  • Recht auf Vergessenwerden: Opfer unberechtigter Skandale müssen Chancen auf Rehabilitation erhalten.

Die Utopie des redaktionellen Bewusstseins

Letztlich geht es Pörksen um eine kulturelle Revolution: Die Prinzipien der redaktionellen Gesellschaft sollen helfen, die „kollektive Erregung“ in einen produktiven Diskurs zu überführen. Dies setzt voraus, dass Individuen und Institutionen:

  • Verletzlichkeit akzeptieren: Fehler einzugestehen, statt sich in Zynismus zu flüchten.

  • Dialogfähigkeit stärken: Debatten als Chance zur Selbstreflexion nutzen, nicht als Schlachtfeld.

  • Langsamkeit kultivieren: Dem Druck zur sofortigen Reaktion bewusst widerstehen.

Medienmündigkeit als demokratische Überlebensfrage

Pörksens Vision der redaktionellen Gesellschaft ist kein technokratisches Regelwerk, sondern ein Aufruf zur intellektuellen Demut. In einer Welt, in der jeder zum Sender geworden ist, entscheidet die Fähigkeit zum verantwortungsvollen Umgang mit Information über den Zusammenhalt der Demokratie. Dies erfordert Mut zur Imperfektion, Investitionen in Bildung und den Willen, Machtstrukturen – sei es in Redaktionen, Plattformen oder Regierungen – transparent zu machen. Die Alternative ist eine weitere Eskalation der „großen Gereiztheit“, in der Wahrheit zur Meinung und Demokratie zum Spektakel verkommt.1 Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. Hanser Verlag, 2018.

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