Mythos & Metaphorik
Der Mensch, die Natur und das Tier
Update vom 25.06.2025
Die Illusion der Trennung: Über die künstliche Abgrenzung des Menschen von Natur und Tier
In der philosophischen Tradition und im Alltagsverständnis hat sich die Vorstellung etabliert, dass der Mensch ein besonderes Wesen sei, das sich von den anderen Tieren und der Natur fundamental unterscheidet. Diese Annahme ist tief in unserem Denken verankert und hat weitreichende Konsequenzen für unser Selbstverständnis und unser Handeln in der Welt. Doch wie der Philosoph Markus Gabriel in seinem Werk „Der Mensch als Tier" überzeugend darlegt, beruht diese Trennung auf einer Projektion, die kritisch hinterfragt werden muss.
Der Tierbegriff als menschliche Konstruktion
„Der Mensch ist dasjenige Tier, das keines sein will", konstatiert Markus Gabriel. Diese prägnante Formulierung trifft den Kern unseres problematischen Selbstverständnisses. Wir haben den Begriff des „Tieres" überhaupt erst geschaffen, um uns davon abzugrenzen. Wenn wir genauer hinschauen, erkennen wir, dass der Tierbegriff wissenschaftlich betrachtet leer ist. In den Lebenswissenschaften spricht man heute präziser von „Metazoa" – mehrzelligen Organismen, die sich von anderen mehrzelligen Organismen ernähren.
Die Projektionsthese, die Gabriel vertritt, besagt, dass wir auf andere Lebewesen projizieren, was wir an uns selbst als „tierisch" betrachten oder überwunden zu haben glauben. Wir definieren Tiere als „Mensch minus X" – also als Wesen, denen etwas fehlt, was wir haben. Diese Projektion führt dazu, dass wir die anderen Lebewesen nicht als das sehen, was sie sind, sondern als Selbstbilder unserer eigenen vermeintlichen Tierhaftigkeit.
Der Abgrund zwischen Mensch und Natur
Unser Geist – verstanden als Bewusstsein und Selbstreflexion – trennt uns von der Natur. Obwohl wir biologisch Teil der Natur sind, ist sie uns aufgrund unserer geistigen Verfasstheit fremd. Wir wissen eigentlich nicht, was die Natur ist, sondern konstruieren durch Naturwissenschaften lediglich Modelle, die uns helfen, bestimmte Aspekte der Natur besser zu verstehen. Dabei reduzieren wir jedoch die Komplexität der Natur auf einzelne Facetten, ohne sie in ihrer Gesamtheit erfassen zu können.
„Wenn der Mensch das geistige Lebewesen ist", so Gabriel, „dann wäre das Bestreiten der Geistigkeit, die Negation, ein Mensch zu sein." Der mereologische Kreis, wie Gabriel es nennt, besteht darin, dass die Natur im Geist ist und der Geist in der Natur. Das An-sich-Sein der Natur (unerkannt, einfach da) und das Für-sich-Sein des Geistes (das Bewusstsein seiner selbst) gehören zusammen, doch klafft zwischen ihnen eine Lücke.
Die ethischen Implikationen
Unsere Selbstbestimmung als Menschen hat weitreichende ethische Konsequenzen. Wenn wir den Projektionseffekt überwinden und anerkennen, dass die anderen Lebewesen nicht einfach „Tiere" im Sinne einer minderwertigen Kategorie sind, sondern eigenständige Lebensformen mit eigenen Eigenschaften, müssen wir auch unser Verhältnis zu ihnen neu definieren.
Die Ethik ist, wie Gabriel betont, „diejenige Wissenschaft, die sich mit der Frage beschäftigt, was wir tun beziehungsweise unterlassen sollten, lediglich insofern wir Menschen sind." Dabei geht es darum, was wir einander und dadurch auch anderen Lebewesen und der geteilten Umwelt schulden. Die Ethik gründet ausschließlich im Menschen, weil nur wir zur Vernunft begabte Lebewesen sind. Daraus folgt eine asymmetrische Verantwortung: „Wenn der Löwe mein Kind reißt, ist das tragisch. Wenn ich die Kinder des Löwen grundlos erschieße, ist das Mord."
Die Krise des Menschen
Gabriel argumentiert, dass wir uns in einer Zeit der „Stapelkrisen" befinden – vom Klimawandel über Demokratiekrise bis hin zu geopolitischen Konflikten. Doch die eigentliche Krise ist die des Menschen selbst, also unseres Selbstverständnisses. Die ökologische Krise und die Tendenz zur Selbstausrottung sind Ergebnisse einer falschen Vorstellung des Menschen von sich selbst.
Unsere technokratische Zivilisation strebt danach, die Geistigkeit zu bestreiten, die wir als Menschen haben. Wir haben eine „unglückliche Zivilisation" aufgebaut, die auf der Vorstellung basiert, dass wir uns von der Natur abgrenzen und sie beherrschen können. Diese Denkweise führt letztlich zu unserer eigenen Zerstörung.
Ein neues Verhältnis zu Natur und Lebewesen
Um einen Ausweg aus dieser Krise zu finden, müssen wir unser Verhältnis zur Natur und zu den anderen Lebewesen grundlegend überdenken. Gabriel plädiert für ein „radikaleres Überdenken unseres Tierseins" und ein „ganz anderes Bild des Verhältnisses von Mensch, Natur und Tier und Umwelt".
Dies erfordert, dass wir die grundlegenden naturphilosophischen und ethischen Fragen neu beantworten: Was ist unser Habitat? Wie konstruieren wir ökologische Nischen? Wie hängt das mit anderen Lebewesen zusammen? Was ist unsere eigene Animalität? Und was bedeuten Begriffe wie „Natur" oder „Umwelt" überhaupt?
Anstatt uns als abgetrennt von der Natur zu verstehen, sollten wir unsere Einbettung in ökologische Zusammenhänge anerkennen. Zugleich müssen wir aber auch unsere besondere Verantwortung als geistige Wesen wahrnehmen, die fähig sind, über ihre eigene Position in der Welt nachzudenken und moralische Entscheidungen zu treffen.
Ergo: Die Überwindung der künstlichen Trennung
Die Trennung des Menschen von der Natur und den anderen Lebewesen ist keine unveränderliche Tatsache, sondern eine historisch gewachsene Konstruktion, die mit problematischen Machtverhältnissen und Ausbeutungsstrukturen verbunden ist. Indem wir diese Konstruktion als solche erkennen und hinterfragen, können wir zu einem reflektierteren und verantwortungsvolleren Umgang mit der Welt und ihren Bewohnern finden.
Markus Gabriels Analysen zum „Menschen als Tier" bieten wichtige Einsichten für diesen Reflexionsprozess. Sie zeigen, dass die Überwindung der künstlichen Trennung zwischen Mensch und Natur nicht bedeutet, dass wir uns in der Natur auflösen oder unsere besonderen Fähigkeiten leugnen müssen. Vielmehr geht es darum, diese Fähigkeiten in den Dienst eines neuen, nachhaltigeren und ethischeren Verhältnisses zur Welt zu stellen.
Letztlich ist die Frage nach dem Verhältnis von Mensch, Tier und Natur keine rein akademische, sondern eine, die unser Überleben als Spezies betrifft. Wie Gabriel eindringlich mahnt: Jede freie Meinungsäußerung in unserer Zivilisation kann als zynischer Kommentar zum Untergang der Menschheit angesehen werden, wenn wir die Selbstausrottung auf die Spitze treiben. Um dies zu verhindern, müssen wir uns selbst neu verstehen lernen – nicht als Herrscher über die Natur, sondern als bewusste und verantwortungsvolle Teilnehmer am großen Netzwerk des Lebens.