Von Mäusen und schlechten Zeiten für die Kunst
Dienstag, 25. März 2025
Kunst erfordert in schwierigen Zeiten Rechtfertigung. Wie Frederick die Mäuse mit Poesie nährt, so zeigt sich der Wert von Kreativität im Mangel. Träumen und Anderssein sind essenziell, doch oft bleibt unklar, ob Kunst tatsächlich überlebt.
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Frederick, ein Bilderbuch von Leo Lionni, hat mich seit meiner Kindheit nicht losgelassen. Die Geschichte wäre mit wenigen Sätzen erzählt, wenn da nicht die Fragen wären. Fragen, die sich stellen, wenn man das Buch als junger Vater hervorholt, um es seinem Zögling vorzulesen.
Man nimmt nichts vorweg, wenn man Frederick als sozial integrierten Nonkonformisten bezeichnet. Es schafft auszuhalten und zu praktizieren, was mancher von uns jahrelang aufschiebt. Wenn es überhaupt einen Plan gibt, sich später im Leben vielleicht einmal kreativ zu betätigen. Einige entdecken den künstlerischen Teil ihrer Existenz erst nach Lebensbrüchen. In meinem fristet mein ausgeprägtes, musikalisches Talent ein eher zurückhaltendes Dasein.
Reden wir von Frederick.
Eine kleine Maus, die sich statt am ritualisierten Sammeln von Vorräten seiner Artgenossen zu beteiligen, dem Materialismus entzieht.
Für Frederick scheinen andere Dinge wichtiger zu sein. Auf die Kritik, warum er nicht hilft, Nüsse, Getreide und für den Winter verwertbare Vorräte zu sammeln, antwortet er, dass er Sonnenstrahlen, Farben und Wörter sammelt. Kopfschüttelnd wenden sich die anderen Mäuse ab. Für größere Erörterungen oder gar Streit ist kaum Zeit, bevor der Winter hereinbricht.
Während andere Mäuse also praktisch denken und für den Winter horten, folgt Frederick einer anderen Berufung. Er sammelt das Immaterielle: Licht, Farben, Geschichten. Was zunächst als Müßiggang erscheint, erweist sich in der Dunkelheit des Winters als rettende Gabe. Seine Poesie wärmt die Herzen der anderen Mäuse. Die Erinnerungen an die Sonnenstrahlen und die Farben lassen das triste Grau des Winters für einen Moment vergessen.
Der vorletzte Satz des Buches dokumentiert die Begeisterung. »Du bist ja ein Künstler!«, rufen die anderen Mäuse und Frederick triumphiert bescheiden, indem er selbst alles das verspürt, was er den anderen durch seine Arbeit bescheren konnte.
Leo Lionni hat mit Frederick das Träumen, das Anderssein, die schöpferische Kraft legitimiert.
Jetzt, wo die Zeiten tatsächlich schwieriger werden, sage ich voraus: Kunst wird sich wieder rechtfertigen müssen. Erst kürzlich kamen wir auf das Buch zu sprechen. Bei einem beruflichen Event. Da stehen dann Fragen im Raum, was wohl passiert wäre, wenn Frederick sich an der Suche und dem Sammeln beteiligt hätte. In der Geschichte gehen den Mäusen nämlich ihre Vorräte aus. Frederick schafft es zwar, den lähmenden Hunger mit seiner Poesie zu lindern. Die Frage bleibt offen, ob sein Beitrag die Mäusefamilie bis ins Frühjahr getragen hätte.
In Zeiten des Mangels steht Kunst immer in der Kritik. Bis auf diejenigen Ausnahmekünstler, die sich selbst finanzieren, hält die Gesellschaft selten üppige Budgets für künstlerisches Schaffen bereit. Warum manche Künstler eine Ausnahme darstellen, bleibt eher unsicher. Eine Gesellschaft darf sich also fragen, welchen Beitrag Kunst im Allgemeinen und in schlechten Zeiten im Besonderen zu leisten imstande ist.
Die Chefdirigentin und künstlerische Leiterin des Konzerthausorchesters Berlin, Joana Mallwitz, bemerkte kürzlich im Podcast Hotel Matze …
Stell dir mal vor, wenn alle unsere Kinder jeden Tag gemeinsam singen würden, und zwar richtig singen würden. Man würde verschiedene Kulturen kennenlernen, man würde Sprachen lernen, Sprachmelodie lernen. Man würde was über sich selbst, sein Selbstbewusstsein, sein Körperbewusstsein erfahren. […] Und trotzdem scheinen es alle zu vergessen.
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