Jenseits des Einheitshammers

Donnerstag, 24. Juli 2025

Der technokratische Rationalismus sieht Lösungen in starren Verfahren, während ein adaptives Weltbild Vielfalt und Flexibilität fördert. Die Zukunft verlangt von uns, nicht nur Lösungen zu finden, sondern auch die Denkmuster, die sie prägen, zu hinterfragen.

Kommentar

Eigener Prompt / Imagen 4

Plädoyer gegen technokratische Weltbilder im Gesundheitswesen

Kommentar zur Perspektive von Florian Bontrup durch die Brille der Causal Layered Analysis (CLA).

In der aktuellen Debatte um die Neugestaltung der Primärversorgung in Deutschland hallt ein Ruf besonders laut: die Forderung nach einem »einheitlichen Ersteinschätzungsverfahren«. Institutionen wie der AOK-Bundesverband plädieren für eine Standardisierung, die auf den ersten Blick Effizienz und Vergleichbarkeit verspricht. Doch Florian Bontrup, ein langjähriger Experte für Software in diesem Bereich, wirft in einem pointierten Beitrag eine entscheidende Gegenfrage auf und legt damit unbewusst den Finger in die Wunde eines tief verankerten Weltbildes. Seine Kritik ist mehr als nur eine technische Meinungsverschiedenheit; sie ist eine Einladung, die zugrundeliegenden Denkmuster zu hinterfragen, die unsere Systeme formen. Eine Analyse mithilfe der ›Causal Layered Analysis‹ (CLA), einer Methode der Zukunftsforschung, kann diese tieferen Schichten freilegen.

Die Weltbild-Ebene: Der Glaube an die universelle Lösung

Die Causal Layered Analysis (CLA), entwickelt vom Zukunftsforscher Sohail Inayatullah, untersucht Phänomene auf vier Ebenen: der Litanei (den Schlagzeilen), den systemischen Ursachen, dem Weltbild und den Mythen/Metaphern (Inayatullah, 2004). Bontrups Kritik zielt direkt auf die dritte Ebene – das Weltbild (›Worldview‹). Dies sind die tief verwurzelten Überzeugungen und Paradigmen, die unsere Systeme legitimieren und unsere Wahrnehmung prägen.

Die Forderung nach einem einzigen, starren Verfahren für die Ersteinschätzung entspringt einem spezifischen Weltbild: dem des technokratischen Rationalismus. Dieses Paradigma geht davon aus, dass komplexe, soziale Systeme wie das Gesundheitswesen am besten durch standardisierte, zentral gesteuerte und rein technische Lösungen optimiert werden können. Es ist ein Glaube an die ›One-Size-Fits-All‹-Lösung, der Komplexität als Problem und Uniformität als Tugend betrachtet. In dieser Weltsicht werden Effizienz und Messbarkeit über kontextuelle Angemessenheit und menschliche Akzeptanz gestellt. Die vielfältigen Realitäten einer Hausarztpraxis, einer Notaufnahme oder der Abrechnungssysteme von Versicherern werden auf ein einziges, abstraktes Modell reduziert.

Florian Bontrup stellt genau dieses Denken infrage, wenn er schreibt: »Wollen wir das wirklich?« »Wollen wir ein Verfahren, das immer gleich ist, egal wie unterschiedlich die Situation ist?« Dieses Zitat ist nicht nur eine rhetorische Frage; es ist ein direkter Angriff auf die Annahme, dass eine einzige, von oben verordnete Lösung der Vielschichtigkeit der Realität gerecht werden kann. Es entlarvt das Weltbild, das den Menschen und seine spezifische Situation dem System unterordnet, anstatt das System in den Dienst des Menschen zu stellen.

Ein Gegenentwurf: Das Weltbild der adaptiven Systeme

Bontrup belässt es nicht bei der Kritik, sondern skizziert einen Gegenentwurf – ein alternatives Weltbild. Er argumentiert für Flexibilität, Konfigurierbarkeit und vor allem für Akzeptanz bei allen Beteiligten. Dies entspricht einem systemischen und adaptiven Weltbild, das die Realität nicht als Maschine, sondern als lebendigen Organismus oder Ökosystem begreift.

In dieser Sichtweise ist die Vielfalt der Kontexte keine Störung, sondern eine gegebene Realität, die intelligente und flexible Werkzeuge erfordert. Die Lösung liegt nicht in der Vereinheitlichung des Werkzeugs, sondern in der Schaffung eines Rahmens, der den Einsatz verschiedener, spezialisierter Werkzeuge ermöglicht. Bontrups Metapher vom Hammer, der nur für Nägel, aber nicht für Schrauben geeignet ist, illustriert diesen Punkt perfekt. Das technokratische Weltbild sieht nur Nägel und fordert daher konsequent einen Hammer. Das adaptive Weltbild erkennt die Existenz von Schrauben an und fordert einen ganzen Werkzeugkasten.

Sein Vorschlag fasst dieses neue Paradigma prägnant zusammen: »Wir brauchen keine Einheitslösung, sondern einen einheitlichen Prozess, der verschiedene spezialisierte Verfahren zulässt«. Hier wird der Fokus von einem starren ›Was‹ (ein einziges Verfahren) auf ein flexibles ›Wie‹ (ein einheitlicher Prozess mit vergleichbaren Zielen) verschoben. Dieses Weltbild vertraut auf die Intelligenz und Anpassungsfähigkeit der Akteure vor Ort und stellt die Akzeptanz als entscheidenden Faktor für den Erfolg in den Mittelpunkt.

Schlussbetrachtung

Die Analyse von Florian Bontrups Text zeigt, dass die Debatte um Ersteinschätzungsverfahren weit über eine technische Diskussion hinausgeht. Sie ist ein Kampfplatz der Weltbilder. Einerseits steht der technokratische Impuls, Komplexität durch rigide Standardisierung zu bändigen – ein Ansatz, der in der industriellen Logik verwurzelt ist, aber an den dynamischen und menschlichen Realitäten des 21. Jahrhunderts oft scheitert.

Auf der anderen Seite steht Bontrups Plädoyer für ein adaptives, systemisches Denken, das Vielfalt als Stärke begreift und Flexibilität zur Maxime erhebt. Seine Analyse ist eine wichtige Erinnerung daran, dass die Lösungen, die wir für die Zukunft entwerfen, immer ein Spiegel unserer tiefsten Überzeugungen sind. Um wirklich bessere, resilientere und menschlichere Systeme zu bauen, müssen wir bereit sein, nicht nur die offensichtlichen Probleme, sondern auch die Weltbilder zu hinterfragen, aus denen sie entspringen.

Referenzen

Inayatullah, S. (2004). Causal Layered Analysis: Theory, historical context, and case studies. In S. Inayatullah (Ed.), The Causal Layered Analysis (CLA) Reader: Theory and Case Studies of an Integrative and Transformative Methodology (pp. 8–49). Tamkang University Press.

Frank Stratmann

AVAILABLE FOR WORK

Ich bin Frank Stratmann – ein Cultural-Foresight-Analyst und Designer für deliberative Kommunikation.
Bekannt als @betablogr.

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