Mythos & Metaphorik
Update vom 22.03.2025
In der Welt der Wirtschaftsethik und Handelsgeschichte nimmt kaum ein Konzept einen so ambivalenten Platz ein wie die Figur des »ehrbaren Kaufmanns«. Diese traditionelle Leitfigur, die jahrhundertelang als Ideal kaufmännischen Handelns galt, verdient eine differenzierte Betrachtung – nicht nur als historisches Phänomen, sondern auch als kultureller Mythos, der bis heute nachwirkt.
Die historische Entwicklung eines Leitbildes
Das Konzept des ehrbaren Kaufmanns reicht nachweislich bis ins 12. Jahrhundert zurück und entwickelte sich parallel in Nordeuropa und im Mittelmeerraum. Seine europäischen Anfänge finden sich im mittelalterlichen Italien und dem norddeutschen Städtebund, der Hanse →. Als praktisches Beispiel dieser Tradition gilt die „Versammlung Ehrbarer Kaufleute zu Hamburg“, die nach eigenen Angaben im Jahr 1517 gegründet wurde und sich selbst als „älteste ethische Wirtschaftsvereinigung Deutschlands“ bezeichnet →. Bemerkenswert ist die jüngste Entwicklung: Nach über 500 Jahren benannte sich die ehemals „Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg“ in „Versammlung Ehrbarer Kaufleute zu Hamburg e. V.“ um – eine Anerkennung, dass „niemand von ehrbarem Verhalten ausgeschlossen ist“, wie der Vorstandsvorsitzende Jochen Spethmann erklärte →.
Tugenden und Werte als Fundament
Der ehrbare Kaufmann steht seit Jahrhunderten für spezifische Tugenden: Zuverlässigkeit, Vertrauen, Fairness und eine ethische Grundhaltung →. Die historische Figur basierte auf einem umfassenden Katalog von Verhaltensweisen: Redlichkeit, Sparsamkeit, Weitblick, Ehrlichkeit, Mäßigkeit, Ordnung, Entschlossenheit, Fleiß und Aufrichtigkeit →. In modernen Interpretationen wird besonders betont, dass „sein Wort zählt“ → – eine Eigenschaft, die den Kern der Vertrauenswürdigkeit ausmacht.
Diese Tugenden waren keineswegs altruistisch motiviert, sondern dienten einem langfristigen wirtschaftlichen Erfolg. Schon im Mittelalter wusste der Kaufmann, dass seine Ehre eng mit seinem wirtschaftlichen Erfolg verflochten war und damit „einen zentralen Vermögenswert darstellte“ →. Durch unehrenvolles Verhalten wie Betrug oder Täuschung verlor der Kaufmann seinen guten Ruf und das Vertrauen seiner Kunden, was unweigerlich zu seinem Ruin führte →.
Der ehrbare Kaufmann fungiert als kultureller Mythos, der eine idealisierte Vergangenheit beschwört und gleichzeitig als Gegenentwurf zu aktuellen Wirtschaftspraktiken dient. Besonders deutlich wird dies nach Wirtschaftskrisen, wenn „die Rückkehr zu hanseatischen Tugenden“ gefordert wird →. Der Mythos transportiert die Sehnsucht nach einer Wirtschaftsordnung, in der das persönliche Wort mehr zählt als komplexe Verträge, und in der Kaufleute Verantwortung für ihr Handeln übernehmen.
Diskrepanz zwischen Ideal und historischer Realität
Die historische Forschung zeigt Widersprüche zwischen dem Ideal des ehrbaren Kaufmanns und der historischen Realität auf. Ein besonders problematisches Beispiel liefert die Biografie von Albert Schäfer, der in Hamburg nach 1945 als Inbegriff des ehrbaren Kaufmanns galt, obwohl seine Unternehmensführung während der NS-Zeit die „Arisierung“ von Unternehmen und den Einsatz von Zwangsarbeitern beinhaltete → →. Diese Diskrepanz verdeutlicht, wie der Mythos auch zur Verklärung und Reinwaschung von problematischen Biografien dienen kann.
Modernisierungsdruck und aktuelle Interpretation
In der modernen Wirtschaftswelt erscheint der Begriff des ehrbaren Kaufmanns manchem etwas verstaubt →. Neuere Konzepte wie Unternehmensverantwortung, Corporate Social Responsibility (CSR), Corporate Citizenship oder Stakeholdermanagement → haben teilweise seine Stelle eingenommen. Der DIHK beklagt, dass der Begriff zunehmend durch Soft-Law-Anglizismen wie Compliance, Good Governance, Fair Play und Corporate Social Responsibility (CSR) verdrängt wird →.
Dennoch bleibt der Kern des Konzepts aktuell: Die Erkenntnis, „dass auf Langfristigkeit angelegte Beziehungen nur dann – auch im Eigeninteresse – erfolgreich sind, wenn die Partner sich auf Fairness und Zuverlässigkeit des anderen verlassen können“ →.
Der ehrbare Kaufmann im Spannungsfeld der modernen Wirtschaftsethik
Die Idee des ehrbaren Kaufmanns steht heute im Spannungsfeld zwischen Tradition und moderner Wirtschaftsethik. Für Unternehmen stellt sich „heute mehr denn je die Frage, worin sich ihre Verantwortung konkretisiert und wie sie dieser gerecht werden können“ →. Dabei kann das Leitbild des ehrbaren Kaufmanns Orientierung bieten, wenn es nicht als rückwärtsgewandte Nostalgie, sondern als entwicklungsfähiges Konzept verstanden wird.
Die Herausforderung besteht darin, „im Rahmen der Erstellung von städtebaulichen Gutachten“ konkrete Handlungsmaßstäbe zu entwickeln, die sowohl ethisch fundiert als auch praktisch anwendbar sind →. Dies erfordert eine Anpassung der traditionellen Tugenden an moderne Herausforderungen wie Globalisierung, Digitalisierung und ökologische Nachhaltigkeit.
Fazit: Zwischen Mythos und zukunftsfähigem Leitbild
Der ehrbare Kaufmann ist mehr als ein historisches Relikt – er ist ein vielschichtiges kulturelles Konstrukt, das auf verschiedenen Ebenen wirkt und interpretiert werden kann. Als Mythos transportiert er ein idealisiertes Bild vergangener Wirtschaftsethik, das kritisch hinterfragt werden muss. Als Leitbild enthält er jedoch wertvolle Grundsätze, die für eine zukunftsfähige Wirtschaftsethik relevant bleiben.
In einer Zeit, in der das Vertrauen in wirtschaftliche Akteure erschüttert ist, kann die Rückbesinnung auf Grundwerte wie Verlässlichkeit, Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein wichtige Impulse geben. Gleichzeitig muss das Konzept weiterentwickelt werden, um den komplexen Herausforderungen moderner Wirtschaftssysteme gerecht zu werden.
Der ehrbare Kaufmann bleibt somit ein ambivalentes Konstrukt – einerseits ein kultureller Mythos, der kritisch zu betrachten ist, andererseits ein ethisches Fundament, das auch in der modernen Wirtschaft seinen Platz haben kann, wenn es reflektiert und zeitgemäß interpretiert wird.