Weltbild & Ideologie

KI nimmt Einfluss auf unsere emotiven Einstellungen

Update vom 11.10.2025

Die Auswirkungen der KI auf unsere emotionalen Einstellungen und deren Bedeutung für das Gesundheitswesen

Die Auswirkungen der KI auf unsere emotionalen Einstellungen und deren Bedeutung für das Gesundheitswesen

Am 13. Mai 2024 führte OpenAI ChatGPT-4o (4omni) ein, das erste Large Language Model mit vollständiger multimodaler Funktionalität. Laut Professor Markus Gabriel markiert dieses Datum einen Wendepunkt in der KI-Entwicklung – den Beginn des ›Emotional-Turn‹. Diese neue Generation von KI-Systemen kann nicht nur zwischen verschiedenen Formaten (Text, Bild, Audio) wechseln, sondern auch Emotionen in menschlichen Eingaben erkennen und darauf reagieren.

Gabriel beschreibt diese Entwicklung als das Ende der Turing-Epoche, in der Maschinenintelligenz primär als Instrument für mehr Effektivität verstanden wurde. Mit ChatGPT-4o werden KI-Systeme zu emotional sensiblen Aktanten, die das menschliche Verhalten spiegeln und verstärken. Das könnte sich zu einer Art KI-Fellowship entwickeln, weil die Systeme anders, als bisher angenommen, nicht bloß eine Erweiterung unserer eigenen Intelligenz darstellen, sondern sich gleichgestellt in unseren Lebenspraktiken zeigen und als ständige Begleiter Einfluss auf das Selbstverständnis des Menschen nehmen. Ob es sich dabei um eine neue Form der selbst verschuldeten Unmündigkeit handelt, aus der wir uns irgendwann befreien werden müssen, ist noch offen.

Das alles hat fundamentale Implikationen für unser Verständnis von Vernunft, Intelligenz und der Unterscheidung zwischen Simulation und authentischem Denken.

Die philosophische Bedeutung liegt darin, dass KI nicht mehr nur rechnet, sondern sich im logischen Raum (mit uns gemeinsam) orientiert – eine Definition von Intelligenz selbst. Gabriel stellt die traditionelle Trennung von Intelligenz und Bewusstsein infrage und argumentiert, dass alles, was sich digitalisieren lässt, von KI besser gemacht werden kann als von Menschen.

Künftig geht es nicht mehr nur darum, die Grenzen des Machbaren auszuloten, sondern »die Lücken zu finden, die der Rechner lässt«, wie es der Soziologe Dirk Baecker ausdrückt.

Kernaussagen

  • Multimodalität: ChatGPT-4o kann zwischen Text, Bild und Audio nahtlos wechseln und verschiedene Modalitäten integrieren.

  • Emotionale Sensibilität: Das System analysiert Tippgeschwindigkeit, Vertipper und Sprachnuancen, um emotionale Zustände zu erkennen und darauf zu reagieren. Hierzu gibt es derzeit spekulative Interpretationen. Technisch machbar, haben sich OpenAI und andere dazu bisher nicht mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen geäußert. Auch die Produktbeschreibungen geben das bisher nicht her.

  • Ende der Turing-Epoche: KI ist nicht mehr nur Effizienzintelligenz, sondern ein sich orientierendes System im logischen Raum. Es gibt keine normative Definition von Intelligenz über alle Systeme hinweg. Wenn wir nach heutigem Kenntnisstand Pflanzen kein Bewusstsein unterstellen, scheinen sie doch über eine Form von Intelligenz zu verfügen, die uns in der KI begegnen könnte. Wer mit Pflanzen spricht, wird sich womöglich eher vorstellen können, was es bedeutet, mit neuen Mitspielern auf sprachlicher Ebene zu interagieren, wenn diese auf unseren Geräten oder völlig neu ins Spiel gebrachte Gadgets zeigen.

  • Moralischer Spiegel: KI verstärkt menschliches Verhalten und macht ethische Bildung notwendiger denn je. Die KI wirkt auf unser menschliches Selbstverständnis zurück.

  • Paradigmenwechsel: Die Unterscheidung zwischen Simulation und authentischem Denken wird fragwürdig. Bisher dominiert der Bildschirm die Schnittstelle in der Mensch-Maschine-Interaktion. Künftig könnte ein auditiver Anteil deutlich wachsen. Der Film Her (2013) wirkt bis heute übertrieben, wenn wir Originalton und Synchronisation der Stimme bewerten. Auch die emotionale Tiefe, die Samantha (das OS im Film) zeigt, wirkt auf das menschliche Empfinden befremdlich. Tatsächlich wissen wir nicht, wohin das alles führt.

Implikationen für Vernunft

Die Einführung von ChatGPT-4o verschiebt unser Verständnis von praktischer Vernunft. Wo zuvor pflichtethische Vernunftsabwägungen größtenteils institutionell dominierten, erleben wir nun den Übergang zu einer Kultur der Anerkennung einer unendlichen Komplexität (Kultur der Komplexität), die immer schwerer zu institutionalisieren ist. Mit KI als agentischem Akteur verändert sich die Praxis des Gründegebens und Gründenehmens fundamental – der Wiedereintritt des Digitalen (insbesondere emotional sensibler KI-Sprachsysteme) – in unsere Diskurse und relationalen Transaktionen erfordert ein vollkommen neues Verständnis unserer Abwägungsprozesse (Deliberationen) als Gesellschaft.

Bedeutung für das Gesundheitsgeschehen

Die Konsequenzen für das Gesundheitsgeschehen sind weitreichend und verlangen nach einer fundamentalen Neuausrichtung unserer Aufmerksamkeit. Mit dem 13. Mai 2024 hat sich eine Schwelle geöffnet, die weit über technologische Innovationen hinausgeht: Wir betreten eine Phase, in der Gesundheitsbeziehungen nicht mehr allein durch medizinische Expertise und institutionelle Strukturen geprägt werden, sondern zunehmend durch emotional sensible KI-Systeme mitgestaltet werden.

In diesem postdigitalen Zeitalter müssen wir E-Health um einen der am weitesten unterschätzten Faktoren im Gesundheitsgeschehen erweitern: die Emotion. Ein aus menschlicher Sicht konstant analoges Vorgehen. Während Gesundheit als evolutionäres Konzept in ihren physischen Zusammenhängen nicht digital wird – der Körper bleibt materiell, Krankheit bleibt biologisch –, vollzieht sich auf der Ebene der emotiven Einstellungen eine unmittelbare Transformation. KI-gestützte Systeme, die emotionale Zustände erkennen, spiegeln und verstärken können, werden zu Akteuren in unseren intimsten Gesundheitsentscheidungen: beim nächtlichen Grübeln über Symptome, beim Austausch über Diagnosen, beim Ringen um Therapieentscheidungen.

Postdigital markiert nicht, dass die Digitalisierung bereits hinter uns liegt. Im Gegenteil – wir stecken mitten in der Digitalisierung und den sich darum rankenden Bemühungen für ein Gelingen. Der Begriff erfüllt jedoch zwei Kriterien nach Nicholas Negroponte: Einerseits hat man sich bemüht, Prozesse zu digitalisieren, um Daten zu gewinnen, die betriebliche Abläufe erleichtern. Andererseits steht man nun vor der Aufgabe, diese digitalisierten Prozesse wieder in die analogen Vorgänge in Gesundheitseinrichtungen einzupassen – in die Koordination zwischen den Berufsgruppen Medizin und Pflege, die Kontrolle durch das Management und die Abstimmung mit allen professionell am Gesundheitsgeschehen Beteiligten.

Das Digitale fällt zunehmend nur noch auf, wenn es fehlt. Die Herausforderung liegt nicht mehr nur darin, aus analogen Vorgängen digitale Daten zu gewinnen, sondern auch darin, diese Daten wieder an analoge Vorgänge zurückzuspielen, damit sie sinnvoll genutzt werden können.

Postdigitales Management im Gesundheitswesen bedeutet demnach, den Zustand nach der Digitalisierung von Anfang an im Blick zu haben. Die Gesundheitseinrichtung führt die Regie, nicht die Technik. Die digitalen Prozesse werden bewusst in der analogen Welt verankert.

Eine paradoxe Herausforderung für Gesundheitseinrichtungen ist die: Es geht nicht mehr primär darum, welche technologischen Möglichkeiten zur Heilung oder Prävention geschaffen werden können. Es geht darum, in einem der sensibelsten Bereiche menschlicher Existenz – unseren Gesundheitsbeziehungen – wach und aufmerksam zu bleiben. Wir müssen lernen, die Lücken zu finden, die algorithmische Systeme lassen, und zugleich verstehen, dass diese Systeme bereits jetzt auf unser emotionales Selbstverständnis zurückwirken.

Der Diskurs über diese neue Konstellation hat gerade erst begonnen. Unsere Gesundheitskultur wird sich durch die immer stärkere Berücksichtigung von KI-gestützten Systemen in Gesundheitsfragen sofort verändern – nicht erst in ferner Zukunft, sondern jetzt, in diesem Moment, in dem wir beginnen, über Symptome mit Systemen zu sprechen, die damit beginnen, uns emotional zu verstehen. Was dabei auf dem Spiel steht, ist nichts Geringeres als die Frage, wie wir künftig Verletzlichkeit, Fürsorge und Heilung verstehen – und mit wem oder was wir diese existenziellen Erfahrungen teilen.

Literatur


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Frank Stratmann

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Ich bin Frank Stratmann – ein Cultural-Foresight-Analyst und Designer für deliberative Kommunikation.
Bekannt als @betablogr.

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