Systemische Ursache
Update vom 22.03.2025
Neuropolitik
Die Neuropolitik ist ein aufstrebendes Feld, das die komplexen Wechselwirkungen zwischen neurobiologischen Prozessen und politischem Verhalten, Entscheidungen und Einstellungen untersucht. Zentral für diese Disziplin ist die Erkenntnis, dass politische und soziale Faktoren das Gehirn und seine Funktionen prägen, während neurobiologische Prozesse gleichzeitig politische Orientierungen und Handlungen beeinflussen.
Diese wechselseitige Beziehung unterscheidet die Neuropolitik grundlegend vom Neurozentrismus. Während der Neurozentrismus neurologische Prozesse als alleinige Erklärung für menschliches Verhalten heranzieht, erkennt die Neuropolitik die komplexe Interdependenz zwischen neurobiologischen, sozialen und politischen Faktoren an. Sie vermeidet damit einen reduktionistischen Ansatz und berücksichtigt die vielfältigen Einflüsse, die politisches Denken und Handeln formen.
Die Neuropolitik betrachtet das Gehirn nicht als deterministische Blackbox, sondern als adaptives Organ, das durch Erfahrungen, Kultur und soziale Interaktionen geprägt wird und sich kontinuierlich verändert. Diese Plastizität des Gehirns ermöglicht es uns, politische Verhaltensweisen und Entscheidungsprozesse differenzierter zu verstehen, ohne sie auf rein neurologische Mechanismen zu reduzieren.
Die Plastizität des Gehirns in Bezug auf politische Entscheidungsfindung zeigt sich besonders deutlich in der Art und Weise, wie Menschen ihre Überzeugungen und Werte entwickeln und anpassen. Diese neurologische Anpassungsfähigkeit ermöglicht es uns, aus Erfahrungen zu lernen und unsere politischen Ansichten zu verfeinern.
Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass diese Plastizität nicht nur individuelle Veränderungen ermöglicht, sondern auch kollektive Lernprozesse unterstützt. Gesellschaften können sich durch gemeinsame Erfahrungen und den Austausch von Ideen weiterentwickeln, was die Grundlage für demokratische Deliberation bildet.
Ein kritischer Aspekt dieser neuropolitischen Plastizität ist ihre Rolle bei der Überwindung voreingenommener Denkmuster. Wenn Menschen sich ihrer eigenen kognitiven Flexibilität bewusst sind, können sie besser zwischen faktbasierten Argumenten und emotional getriebenen Überzeugungen unterscheiden.
Neurodiversität
In diesem Kontext gewinnt das Konzept der Neurodiversität an Bedeutung. Sie erkennt die natürliche Vielfalt neurologischer Bedingungen innerhalb der Bevölkerung an. Trotz zunehmender Inklusion neurodiverser Persönlichkeiten, die Würdigung der Andersartigkeit im Denken, kommt es zu fatalen Fehlschlüssen, die ganze Gesellschaften heimsuchen können.
Pointiert lässt sich sagen, dass neuropolitische Fehlschlüsse entstehen, wenn traumatisierte politische Akteure ihre persönlichen Erfahrungen und psychologischen Prägungen nicht ausreichend reflektiert auf gesellschaftspolitische Entscheidungen übertragen. Diese Fehlschlüsse manifestieren sich besonders in drei Bereichen.
Eine vereinfachte Schwarz-Weiß-Sicht auf komplexe politische Herausforderungen, die aus traumabedingten Denkmustern resultiert.
Die Übertragung persönlicher Traumabewältigungsstrategien auf staatliches Handeln, etwa durch übermäßige Kontrolle oder Isolation.
Die Instrumentalisierung kollektiver Traumata zur Rechtfertigung illiberaler Politik.
Diese Fehlschlüsse sind besonders gefährlich, weil sie sich hinter scheinbar rationalen politischen Argumenten verbergen und oft erst in ihren langfristigen Auswirkungen erkennbar werden. Sie können zu einer Spirale aus politischer Polarisierung und gesellschaftlicher Spaltung führen.
Ein Beispiel für neuropolitische Fehlschlüsse zeigt sich in der von J.D. Vance vertretenen Politik: Seine durch ACEs geprägte Weltsicht führt zu einer übermäßigen Betonung traditioneller Familienstrukturen als Lösung für komplexe gesellschaftliche Probleme, während systemische Ursachen sozialer Ungleichheit ausgeblendet werden.
In der kulturellen Vorausschau (Cultural Foresight) gelten uns diese Erkenntnisse als systemische Ursache. Wenn machtbewusste Menschen es mittlerweile weltweit schaffen, ihr Handeln demokratisch zu legitimieren, stellt sich die Frage, wie sich eine Demokratie resilient gegenüber dieser Form von Fehlschlüssel verändern muss. Denn derzeit vollzieht sich eine Verschiebung dessen, was wir einst plural nannten. Zur Schau getragene Verachtung ist dann keine diverse Charaktereigenschaft mehr, sondern eine neuropolitische Auffälligkeit, die aus Gründen zulasten der Demokratie instrumentalisiert wird.
Um dem Verdacht entgegenzuwirken, dass wir es hier mit einem Problem unter Eliten zu tun haben, das die Durchschnittsbürger nichts angeht, wollen wir uns den Diskurs um Neurodiversität näher anschauen.
Neurodiversität und die Herausforderungen individueller Fehlschlüsse
Die Anerkennung von Neurodiversität ist grundsätzlich positiv und fördert ein inklusiveres Verständnis menschlicher Unterschiede. Jedoch birgt die Kombination von Neurodiversität mit schwierigen Lebenserfahrungen das Potenzial für individuelle Fehlschlüsse, die sich auf kollektiver, gruppenbezogener oder gesellschaftlicher Ebene manifestieren können.
Diese Problematik wird in einer postmodernen Ära, die oft durch erkenntnistheoretische Herausforderungen und eine Skepsis gegenüber universellen Wahrheiten gekennzeichnet ist, besonders deutlich.
Die Kritik am Postmodernismus, insbesondere an seiner Tendenz zur Relativierung, zum moralischen Nihilismus und zum Pessimismus, ist hier von Bedeutung. Eine ungebremste Akzeptanz aller Perspektiven, ohne eine kritische Auseinandersetzung mit ihren möglichen Ursachen und Konsequenzen, kann das Risiko bergen, dass individuelle Fehlschlüsse unhinterfragt bleiben und sogar legitimiert werden.
Ein Beispiel für die Problematik neurodiverser Fehlschlüsse im politischen Kontext ist die Rechtfertigung politischer Programme durch Führungspersönlichkeiten auf der Grundlage individueller Erfahrungen, wie Adverse Childhood Experiences (ACEs). Ich habe das oben bereits angesprochen. Besonders an dem Fall des US-Vizepräsidenten der zweiten Trump-Administration ist, dass er den Fehlschluss in seiner Biografie vor aller Welt offengelegt hat.
Unreflektierte Traumata können eine Brutstätte für moralischen Nihilismus darstellen, wenn sie dazu dienen, schädliche politische Entscheidungen zu legitimieren, anstatt eine breitere, evidenzbasierte Analyse gesellschaftlicher Probleme zu fördern. Die kommenden Jahrzehnte werden uns mit unterschiedlichen Phänomenen konfrontieren, die auf neurodiverse Fehlschlüsse zurückzuführen sein könnten.
Es ist daher unerlässlich, einen neuen Grad an Empathie auszubilden und Inklusion für neurodiverse Menschen zu leben.
Gleichzeitig müssen wir uns den Problemen stellen, die sich bereits abzeichnen. Die heute scheinbar notwendige Aggression, die es braucht, sich in Ämter zu bringen oder innerhalb von Unternehmen aufzusteigen, setzt fast schon ungünstige Erfahrungen voraus. Das Ellenbogenprinzip setzt sich immer noch gegen jede Form der Empathie durch. Kooperative Führungsstile hatte nur eine kurze Zeit. Wenn jemand aufgrund seiner Erfahrungen in Führungspositionen gelangt, spricht das häufiger für ihn, als gegen sein an den Tag gelegtes Handeln, das nicht mehr mit einem reinen Machtbewusstsein oder Karrierewünschen erklärt werden kann.
Von einfachen und gesellschaftlich konstitutiven Traumata
Neurodiverse Menschen sollten hier nicht unter Verdacht gestellt werden, grundsätzlich zu Fehlschlüssen zu kommen. Ein möglicher Grund für Irrtümer liegt in der Kollision der besonderen Umstände, die im Leben selbst liegen. Die teils strenge, sprachlose Nachkriegszeit bringt bis heute zahlreiche Zeitzeugenberichte hervor. Die jüngst erschienene Biografie der ehemaligen RAF-Terroristin Silke Maier-Witt zeigt eindrucksvoll, welche Mechanismen nötig sind, um sich zu radikalisieren.
Wenn sich diese Mechanismen auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen, wird es besonders brisant. Neurodiverse Menschen, häufig mit überdurchschnittlicher kognitiver Begabung ausgestattet, können ihre Fähigkeiten und ihr Wissen einsetzen, um vertraute Umfelder aus ihrer Sozialisationsphase zu reproduzieren. Die Auswirkungen reichen dabei weit über den familiären Kontext hinaus – je nach Position und Einfluss können ganze Unternehmen oder gar staatliche Strukturen betroffen sein.
Ein historisches Beispiel findet sich in der eben erwähnten Biografie von Silke Maier-Witt, RAF-Terroristin der zweiten Generation. Ihre Geschichte illustriert, wie frühe Traumatisierungen – ein schweigender Vater mit NS-Vergangenheit, der frühe Tod der Mutter, familiäre Instabilität – trotz hoher Intelligenz und Bildungsaspiration (sie strebte ein Medizinstudium an) zu extremistischen Positionen führen können. Diese biografischen Elemente weisen deutliche Parallelen zu ACE-Erfahrungen auf.
Dies entbindet niemanden von der Verantwortung für das eigene Handeln, erklärt aber, wie auch hochintelligente Menschen sich in ideologische Mythen verstricken können. Die RAF selbst kann als Manifestation eines gesellschaftlichen Traumas verstanden werden, das in direkter Beziehung zum NS-Erbe stand.
Moralisieren bringt uns auch nicht weiter
Der Philosoph Hanno Sauer hat etwa die evidenten Phänomene des »Linken Brahmanen«, der »Elitenüberproduktion« und der »teuren Signale« miteinander verbunden, um die Dynamiken in der modernen Gesellschaft und die Auswirkungen auf strategische Führung zu beleuchten. Diese Konzepte können dazu beitragen, die komplexen sozialen und politischen Kräfte zu verstehen, die mit individuellen Entscheidungen und Fehlschlüssen interagieren.
Die drei Konzepte – linker Brahmane, Elitenüberproduktion und teure Signale – erklären zusammen die aktuelle Dynamik der Moralisierung in der Gesellschaft. Linke Brahmanen, eine hochgebildete, aber einkommensschwache Elite, konkurrieren unter Bedingungen der Elitenüberproduktion um Status. Da ihnen die finanziellen Mittel für traditionelle Statussymbole fehlen, nutzen sie moralische Intervention als Währung. Die permanente Entwicklung neuer moralischer Konzepte und extremer Positionen dient dazu, diese an sich »billigen« moralischen Signale künstlich zu verteuern und als Distinktionsmerkmal nutzbar zu machen.
Was Hanno Sauer nicht anspricht, wäre die folgende Ergänzung: Aus meiner Sicht erklärt dieser Rückschluss, dass durch ungünstige Erfahrungen unter Aspekten der Hochbegabung auch, warum das teure Signal für manchen Akademiker darin liegt, sich politisch extrem zu betätigen. War es nicht immer schon verwunderlich, warum wir scheinbar etablierte Akademiker, Professoren und bestens ausgebildete Menschen innerhalb einer sich selbst als Alternative bezeichnenden Partei erleben müssen? Offenbar gibt es nicht nur »Linke Brahmanen«, sondern auch jene, die für sich eine rechtsextreme Heldensaga erkennen wollen. Frei nach dem Motto: »Meine Identität ist mein Schicksal«.
Wahlentscheidungen sind betroffen
Neuropolitische Fehlschlüsse sind nicht nur in den Handlungen von Führungskräften zu finden, sondern auch in individuellen Wahlentscheidungen, wie die Wahl extremer Parteien. Individuelle Entscheidungen, die auf ungünstigen Erfahrungen basieren, können dazu führen, dass Wähler demokratiefeindliches Handeln unterstützen oder sogar begründen, ohne ihren eigenen Fehlschluss zu erkennen.
Schlussfolgerung
Um diese Aspekte miteinander zu verknüpfen: Neurodiverse Persönlichkeiten benötigen ein empathisches Umfeld und eine aufgeklärte Gesellschaft, um sich integriert zu fühlen. Wenn diese Menschen (meist in jungen Jahren) kritische Erfahrungen machen, birgt dies Gefahren, die sich im politischen Handeln manifestieren können. Dies beginnt bereits bei der Entscheidung, wen man wählt, und setzt sich im Verhalten und Handeln fort. Dieses Verhalten und Handeln hat immer einen Grund, der jedoch gerade dann verschleiert wird, wenn neurodiverse Persönlichkeiten sich auf ihre trainierten Bewältigungsmechanismen verlassen und damit neurodiverse Fehlschlüsse vollziehen, die politische Wirkung entfalten können.
Die Neuropolitik bietet einen wertvollen Rahmen, um die komplexen Zusammenhänge zwischen Neurodiversität, individuellen Erfahrungen, Fehlschlüssen und politischen Entscheidungen zu verstehen.
Es bleibt entscheidend, eine Balance zwischen Empathie und Inklusion für neurodiverse Menschen und einer kritischen Auseinandersetzung mit den potenziellen Auswirkungen individueller Fehlschlüsse zu finden.
Eine aufgeklärte Gesellschaft, die in der Lage ist, neurodiverse Fehlschlüsse zu erkennen und anzusprechen, ist unerlässlich, um die Gefahren zu minimieren, die sich im politischen Handeln manifestieren können.
Aktueller
Früher