Die US-Kulturrevolution beeinflusst den deutschen Gesundheitsmarkt, fordert technokratische Strukturen und stellt demokratische Werte in Frage.
Starten wir einmal mit der Weissagung, die ein aktueller Text von Curtis Yarvin zu erkennen gibt.
Die wirkliche Macht liegt nicht bei gewählten Politikern, sondern bei einem schwer fassbaren, selbstreferenziellen System. Wer dieses System herausfordert, riskiert alles – und hat kaum eine Chance, es zu besiegen.
Curtis Yarvin ist ein amerikanischer Informatiker, Blogger (bekannt als ›Mencius Moldbug‹) und Vordenker des Neo-Reaktionarismus (NRx). Er propagiert die Abschaffung der Demokratie zugunsten einer CEO-geführten Staatsstruktur.
Wir beobachten Yarvin für unsere Campagne (›Camp‹) zur US-Kulturrevolution, nicht, weil seine Stimme zwingend gehört werden sollte. Der eigentliche Grund ist: Er gilt als ideologisches Bindeglied zwischen der Tech-Elite (besonders Peter Thiel, Marc Andreessen) und den aktuellen politischen Entwicklungen rund um die Trump-Administration. Seine Ideen zur Liquidation des Verwaltungsstaates und zur Ersetzung demokratischer Strukturen durch technokratische Führung haben direkten Einfluss auf politische Akteure wie J. D. Vance genommen.
Das kürzliche Ausscheiden von Elon Musk kommentiert er gerade so:
Perhaps even worse, the administration has gone through an ugly public breakup with its largest, most energetic, and most creative supporter – who is now threatening to pour his energy into a literal third party, an idea as promising as a butter-fueled rocket.
Das Netzwerk aus Medien, Universitäten und Bürokratie nennt Yarvin »Kathedrale«, die eine linksliberale Hegemonie aufrechterhält. Die Verbindung zwischen Yarvins Theorien und den praktischen Umsetzungsversuchen in der aktuellen US-Politik zeigt exemplarisch, wie Tech-Eliten versuchen, staatliche Strukturen nach ihren Vorstellungen umzugestalten – ein Kernaspekt dessen, was wir als Kulturrevolution untersuchen.
Curtis Yarvin beschreibt in seinem aktuellen Text, dass die USA nicht von einer echten Demokratie, sondern von einer institutionalisierten Oligarchie („Regime“) regiert werden. Diese Oligarchie besteht aus einem Netzwerk von staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen (Behörden, Gerichte, Medien, Universitäten), die eng miteinander verflochten sind und gemeinsam die öffentliche Meinung und die Politik bestimmen.
Die republikanische Partei und populistische Bewegungen wie Trump erscheinen Yarvin zwar als Opposition, sind aber entweder kontrolliert, schwach oder ineffektiv. Auch wenn sie an die Macht kommen, können sie das System kaum verändern, weil die eigentlichen Machtstrukturen unangetastet bleiben. Die wenigen sichtbaren Veränderungen (wie die Schließung von USAID oder Maßnahmen an der Grenze) sind eher symbolisch und stärken am Ende sogar das Regime, indem sie es zu neuer Geschlossenheit und Energie zwingen.
Kurzum, Curtis Yarvin ist eine Figur, von der sich der Vizepräsident der USA inspirieren lässt und die vermutlich bald schon der erste Mann im Weißen Haus ist. Mit seinen neuropolitischen Fehlschlüssen habe ich mich auf Basis seiner Autobiografie hier beschäftigt.
Die digitale Abhängigkeit des deutschen Gesundheitsmarktes
Die Auswirkungen der US-Kulturrevolution auf den deutschen Gesundheitsmarkt sind tiefgreifender, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Entwicklungen, die Akteure wie Curtis Yarvin glauben, vorantreiben zu müssen, nehmen Einfluss auf die politische Landschaft, und sie sind keine isolierten Phänomene, sondern Teil einer umfassenderen Transformation, die auch unser Gesundheitssystem unmittelbar betrifft.
Zunächst ist festzuhalten, dass ein Großteil der innovativen KI-Lösungen im Gesundheitsbereich aus den USA stammt. Die führenden Unternehmen in der Entwicklung medizinischer Algorithmen, Diagnosetools und Telemedizin-Plattformen sind überwiegend in Silicon Valley oder anderen US-Tech-Zentren angesiedelt. Diese digitalen Werkzeuge werden zunehmend in deutsche Kliniken, Arztpraxen und Versicherungssysteme integriert – oft ohne ausreichende Reflexion darüber, welche kulturellen und politischen Wertvorstellungen in diesen Technologien eingebettet sind.
Deutschland steht noch immer in der Tradition des Marshall-Plans, was bedeutet, dass wir nicht nur wirtschaftlich, sondern auch technologisch und kulturell eng mit den USA verflochten sind. Trotz aller Bemühungen um digitale Souveränität sind die europäischen Initiativen im Bereich der datengestützten Medizin noch unzureichend entwickelt, um ohne US-amerikanische Innovationen auszukommen.
Ob wir als Land oder größere Teile von Europa den USA auch ideologisch folgen, entscheidet sich in den nächsten Jahren. Und hier kommen wir noch einmal zurück zum aktuellen Text von Curtis Yarvin. Seiner Auffassung nach, sollte die Trump-Administration die nächste Wahl verlieren, wird die nachfolgende demokratische Regierung die juristische Verfolgung („lawfare“) gegen alle, die mit Trump zusammengearbeitet haben, massiv ausweiten und systematisieren. Yarvin sieht darin eine existenzielle Bedrohung für alle, die sich gegen das herrschende System stellen: Wer einmal offen opponiert hat, riskiert im Falle eines Machtverlusts seine persönliche und berufliche Existenz. Das politische System wird so zu einem Nullsummenspiel, in dem die Verlierer alles verlieren können.
Und so schwer das jetzt fällt, diesem Mann Recht zu geben. Wenn wir das ernst nehmen, wird der Trump-Administration sehr lange vieles einfallen, um sich an der Macht zu halten.
Geopolitische Spannungen und ihre Auswirkungen
In dieser Konstellation befinden wir uns außerdem noch zwischen zwei Polen: Einerseits steht China, das digitale Technologien nutzt, um einen zentralisierten Staat mit umfassender sozialer Kontrolle zu festigen. Auf der anderen Seite stehen die USA mit ihrer aktuellen Staatskrise und den von Yarvin beschriebenen Machtkämpfen zwischen dem »Regime« und seinen Herausforderern und einer bald schon techno-libertären Doktrin, die gefährlich sein kann für die Entwicklungen in Europa.
Diese Fragilität des US-amerikanischen Systems, wie sie sich in den aktuellen politischen Turbulenzen manifestiert, wird unmittelbare Auswirkungen auf den deutschen Gesundheitsmarkt haben. Sollte es zu einer weiteren Polarisierung oder gar Destabilisierung kommen, könnte dies zu Unterbrechungen in Lieferketten für medizinische Technologie führen, regulatorische Unsicherheiten schaffen und internationale Forschungskooperationen gefährden.
Kulturelle Implikationen für das deutsche Gesundheitswesen
Besonders besorgniserregend ist die potenzielle Übertragung der von Yarvin und ähnlichen Denkern propagierten technokratischen Staatsführung auf das Gesundheitswesen der USA und die sich daraus entwickelnden Implikationen. Die Idee einer CEO-geführten Staatsstruktur könnte sich in privat kontrollierten Gesundheitssystemen manifestieren, in denen Effizienz und Profitabilität über Gleichheit und Zugänglichkeit gestellt werden – ein direkter Konflikt mit den Grundprinzipien des deutschen Solidarsystems ist zwar nicht zu erwarten. Doch kulturell steht uns eine negative dialektische Reifeprüfung ins Haus.
Die »Kathedrale«, wie Yarvin das Netzwerk aus Medien, Universitäten und Bürokratie nennt, hat in Deutschland ein Pendant in den etablierten medizinischen Fakultäten, Forschungsinstituten und Gesundheitsbehörden. Eine Infragestellung dieser Strukturen nach US-amerikanischem Vorbild könnte zu einer Delegitimierung evidenzbasierter Medizin führen und den Weg für alternative Gesundheitsnarrative ebnen, die möglicherweise nicht wissenschaftlich fundiert sind.
Falls der Leser das an dieser Stelle für zu weit hergeholt empfindet. In den USA ist die Besetzung des Supreme Court ein hochpolitisiertes Spektakel, das regelmäßig zu parteipolitischen Grabenkämpfen führt. Präsident und Senat nutzen ihre Mehrheiten, um das Gericht ideologisch zu prägen – mit weitreichenden Folgen für die Rechtsprechung und die politische Kultur.
Das Spektakel, das sich gerade um die Juristin Brosius-Gersdorf entfacht hat, stimmt mich sorgenvoll, wenn sich vergleichbare Einflüsse auf das deutsche Gesundheitswesen übertragen.
Strategische Handlungsoptionen
Angesichts dieser Entwicklungen ist es für den deutschen Gesundheitsmarkt essenziell, die kulturellen und politischen Strömungen in den USA genau zu beobachten und ihre Implikationen für unsere eigenen Systeme zu analysieren. Dies erfordert:
Eine verstärkte Investition in europäische digitale Gesundheitslösungen, um die Abhängigkeit von US-Technologien zu reduzieren
Die Entwicklung robuster ethischer Rahmenwerke für den Einsatz von KI und Big Data in der Medizin, die europäische Werte widerspiegeln
Eine kritische Auseinandersetzung mit den kulturellen Implikationen importierter Gesundheitstechnologien
Die Stärkung demokratischer Entscheidungsprozesse im Gesundheitswesen als Gegengewicht zu technokratischen Tendenzen
Die US-Kulturrevolution ist somit nicht nur ein fernes politisches Phänomen, sondern ein unmittelbarer Einflussfaktor auf die Zukunft des deutschen Gesundheitsmarktes. Die Art und Weise, wie wir auf diese Herausforderungen reagieren, wird maßgeblich darüber entscheiden, ob wir ein solidarisches, patientenorientiertes Gesundheitssystem bewahren können oder ob wir einer technokratischen Transformation nach US-amerikanischem Vorbild folgen werden.