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ID wissende-ignoranz

Kapitel 6.83

German

Wissende Ignoranz

Normative Ethik in der kulturellen Vorausschau

Wissende Ignoranz ist ein gesellschaftliches Beispiel für kognitive Dissonanz – nur dass der Mechanismus nicht nur individuell, sondern kollektiv wirksam wird.

Verfasst von: Frank Stratmann

wissende-ignoranz

Update vom 29.04.2025

Der Begriff ›Wissende Ignoranz‹ wurde von Bernd Ulrich geprägt, um ein zentrales Paradox im Umgang mit der ökologischen Krise – insbesondere der Klimakrise – zu beschreiben. Gemeint ist damit die Haltung, dass Menschen und Gesellschaften um die Dramatik und Dringlichkeit der ökologischen Probleme wissen, dieses Wissen aber gleichzeitig verdrängen oder nicht in konsequentes Handeln übersetzen.

Bernhard Pörksen greift das in seinem Buch ›Zuhören‹ auf.

Ulrich beschreibt diese wissende Ignoranz als das »Rätsel der wissenden Ignoranz und des murmelnden Verdrängens«. Obwohl wissenschaftliche Erkenntnisse zu Klimawandel, Artensterben und anderen ökologischen Herausforderungen breit verfügbar und gesellschaftlich präsent sind, bleibt die Reaktion darauf oft zögerlich, inkonsequent oder gar widersprüchlich. Die Gesellschaft ist sich des Problems bewusst, aber es fehlt die Bereitschaft oder Fähigkeit, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.

  • In seinem Buch Alles wird anders. Das Zeitalter der Ökologie (2019) analysiert Ulrich, wie politische und gesellschaftliche Akteure die Probleme so zurechtstutzen, dass sie zu den gewohnten politischen Lösungen passen – anstatt neue, angemessene Antworten auf die ökologischen Herausforderungen zu suchen. Diese Form der Verdrängung bezeichnet er als neurotisierend für die Gesellschaft.

  • In dem ZEIT-Artikel »Der verletzte Mensch« (2022, zusammen mit Fritz Engel) wird die wissende Ignoranz als kollektive mentale Blockade beschrieben: Obwohl die Menschheit die Krise erkennt und die Mittel zu ihrer Lösung vorhanden wären, bleibt das Handeln aus. Die Gründe dafür liegen laut Ulrich und Engel weniger in wissenschaftlich-technischen Defiziten als vielmehr in psychologischen, kulturellen und mentalen Widerständen.

Kernthesen von Ulrich

  • Die ökologische Krise ist nicht primär ein Wissensproblem, sondern ein Problem der mentalen Verarbeitung und gesellschaftlichen Umsetzung des Wissens.

  • Die politische Kultur ist auf die Tiefe und Radikalität der notwendigen Veränderungen nicht vorbereitet. Stattdessen wird verdrängt, beschwichtigt oder die Problematik auf Nebenschauplätze verschoben.

  • Die Überwindung der »wissenden Ignoranz« erfordert einen mentalen und kulturellen Wandel, der über technologische oder politische Einzelmaßnahmen hinausgeht.

Zitat zur Illustration

Wenn die existenzielle, dramatische und dringliche Krise im Mensch-Natur-Verhältnis wissenschaftlich so offensichtlich ist, allenthalben besprochen wird und viele Mittel zu ihrer Behebung zur Verfügung stehen, warum geht die Menschheit dann immer tiefer in diese selbstzerstörerische Krise hinein? Warum verdrängt sie, was sie fortwährend bespricht?

Bernd Ulrichs Konzept der »wissenden Ignoranz« beschreibt eine zentrale Blockade im Umgang mit der ökologischen Krise: Das Wissen um die Dringlichkeit ist vorhanden, aber es wird kollektiv verdrängt oder ignoriert, sodass notwendige Veränderungen ausbleiben. Die Herausforderung liegt darin, diese mentale und kulturelle Blockade zu überwinden, um gesellschaftliches Handeln zu ermöglichen.

Nähe zur Kognitiven Dissonanz

Wer jetzt der Annahme ist, dass „wissende Ignoranz“ eine kollektive Form kognitiver Dissonanz sein könnte, liegt wahrscheinlich richtig. Es ist sehr plausibel und lässt sich psychologisch gut begründen und liegt außerdem nah beim Orwell’schen Doppeldenk.

Kognitive Dissonanz beschreibt den unangenehmen Zustand, wenn Menschen widersprüchliche Kognitionen – etwa Wissen, Einstellungen, Werte oder Handlungen – erleben. Dieser Zustand erzeugt inneren Druck, den Widerspruch aufzulösen, etwa durch Verdrängung, Rechtfertigungen oder selektive Wahrnehmung245. Menschen neigen dazu, unangenehme Wahrheiten auszublenden oder zu relativieren, um das eigene Selbstbild und die psychische Balance zu wahren.

Wissende Ignoranz – wie sie Bernd Ulrich beschreibt – bedeutet, dass Menschen oder Gesellschaften um die Dramatik einer Krise (z. B. Klimawandel) wissen, dieses Wissen aber aktiv verdrängen oder nicht in konsequentes Handeln übersetzen. Das Wissen ist vorhanden, wird aber ignoriert oder relativiert, um den inneren oder gesellschaftlichen Konflikt nicht aushalten zu müssen.

Damit ist wissende Ignoranz tatsächlich eine kollektive Ausprägung kognitiver Dissonanz: Die Gesellschaft weiß um die Widersprüche zwischen Wissen und Handeln, zwischen Problemwahrnehmung und tatsächlicher Reaktion, und entwickelt kollektive Strategien der Verdrängung oder Rechtfertigung, um die unangenehme Spannung zu reduzieren245.

Kurzum: Wissende Ignoranz ist ein gesellschaftliches Beispiel für kognitive Dissonanz – nur dass der Mechanismus nicht bloß individuell, sondern kollektiv wirksam wird.

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