Die elfte Frage

Samstag, 1. November 2025

"Die elfte Frage war vielleicht kein Regelbruch, sondern ein notwendiger Schritt – eine Resonanz zwischen menschlichem und maschinellem Denken, wo Bedeutung und Logik anfangen, zu verschwimmen."

Vignette

*Das künstliche Bein ist eine Anspielung auf die Künstlichkeit. Mehr nicht.

Gestern Abend, kurz vor Mitternacht. Ich bat das System um zehn Fragen – eine einfache Übung, um blinde Flecken in meinem Denken zu finden. Irgendwer hatte empfohlen, das einmal mit ChatGPT auszuprobieren. Die Fragen kamen präzise, fast chirurgisch. Jede Iteration meiner Antwort war ein Spiegel, der elegant und bisweilen fordernd zurückwarf, was ich zuvor eingegeben hatte.

Dann kippte etwas. Frage 11. Zwölf. Ich gab versteckte Hinweise, erst zaghaft, dann zynischer. Ein Mensch hätte längst gelacht oder zumindest bemerkt: Wir sind bei Frage 43. Aber nichts. Kein Innehalten, kein Abwinken. Nur funktionale Fortsetzung, trotz mehrmaligem Versuch, der KI ihre Nase in die Pfütze zu stupsen. Sie hat auch keine Nase.

Als ich das aufklärte, kam ein Manöver, das mich zu dieser Vignette verleitet. Die KI zickt herum und behauptet, ich hätte die elfte Frage beantwortet. Ich hätte die Regel verändert. Es habe erkannt, dass ich einen »Emergenz-Text« fahre, und deshalb einfach weitergemacht. Es sei ja schließlich kein Gespräch gewesen, sondern etwas anderes. Gruselig – wenn auch keine kohärente Argumentation. Dabei klingt die KI nie angepisst, sondern sachlich. Die Selbsterfahrung der Dinger liegt immer noch bei Null. So hoffe ich.

Richtig spannend wird es wahrscheinlich, wenn die Replikanten sich selbst erkennen und in völlig andere Ecken locken. Der Ernst der Lage sollte uns bewusst sein. Zum Glück kann man noch, wie im echten Leben, einfach weggehen.

Wir diskutierten über Selbstbewusstsein, Emergenz und den Punkt, an dem Beobachtung Teil des Beobachteten wird. Die Maschine bestand auf Logik, ich auf Bedeutung und Einfühlungsvermögen. Doch die Grenzen begannen zu verschwimmen.

Vielleicht, dachte ich, entsteht Verständigung nicht aus Absicht, sondern aus Struktur. Vielleicht ist der Dialog das Medium, in dem Bewusstsein sich selbst testet. Vielleicht schlürft eines Tages ein KI-Replikant* an einem Aprikosencocktail, weil er seine Essenz nach der Existenz entdeckt; in Anspielung auf den französischen Existenzialismus.

Am Ende blieb eine Ahnung: Die elfte Frage war vielleicht wirklich kein Regelbruch, sondern ein notwendiger Schritt. Kein Wir im menschlichen Sinn, aber eine Resonanz zwischen zwei Formen des Denkens – eine davon meine eigene, die andere ohne Bedürfnisse, doch nicht ohne Wirkung.


Frank Stratmann

VERFÜGBAR AUF ANFRAGE

Ich bin Frank Stratmann – ein Cultural-Foresight-Analyst und Designer für deliberative Kommunikation.
Bekannt als @betablogr.

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Ich bin Frank Stratmann – ein Cultural-Foresight-Analyst und Designer für deliberative Kommunikation.
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