Kipppunkte sind schwer auszumachen
Freitag, 31. Oktober 2025
Die Zukunft des Gesundheitswesens liegt in Prävention, Automatisierung und Hyperpersonalisierung – nicht in neuen Geräten, sondern in den Unterscheidungen, die wir treffen. Das Gesundheitswesen steht am Kipppunkt. Jetzt ist die Zeit zum Handeln!
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Eigenes Foto
Das war der EY Health Trend Day 2025
München, Anfang Oktober. Ich war eingeladen, nach München zu kommen. EY Studio veranstaltete mit einer handverlesenen Runde von Experten den EY Health Trend Day 2025 im hauseigenen Wavespace. Rund um mich herum also Menschen, die das Gesundheitswesen nicht nur verstehen wollen, sondern gestalten. Den gesamten Tag über ging es um nicht weniger als die Zukunft des Gesundheitsgeschehens – und ich durfte mittendrin sein, zuhören, nachfragen, mitdenken.
Drei große Ideen, die auf den ersten Blick technisch klingen, aber bei genauerem Hinsehen viel grundsätzlicher sind. Es geht um Prävention, Automatisierung und Hyperpersonalisierung. Und wer verstehen will, warum das Gesundheitswesen möglicherweise an einem Kipppunkt steht, sollte weiterlesen. Kipppunkt klingt immer sehr dramatisch. Eine Revolution haben wir nicht ausgemacht. Im Nachgang sind mir einige Aspekte aufgefallen, die ich hier gern besprechen möchte, weil es eben kippt. Langsam, aber sicher.
Prävention: Vom Schutzschild zum pflegenden Garten
Lara Maier brachte es auf den Punkt: Die Zukunft der Medizin liegt nicht in der Reaktion, sondern in der Kultivierung einer vorausschauenden Lebenspraxis. Prävention ist kein Randthema mehr, sondern rückt ins Zentrum – messbar, reproduzierbar, alltäglich anschlussfähig. Durch digitale Tools, Wearables und Coaching-Formate wird Gesundheit nicht mehr nur im Krankheitsfall relevant, sondern als kontinuierliche Lebensführung und als Wegbereiter einer neuen Gesundheitskultur.
Die alte Unterscheidung ›krank ¬ gesund‹ wird überlagert von einer neuen: ›förderlich ¬ hinderlich‹.
Es geht nicht mehr nur darum, Krankheiten zu verhindern, sondern Bedingungen zu schaffen, die Gesundheit ermöglichen. Ein pflegender Garten statt eines reaktiven Schutzschilds.
Was das konkret bedeutet? Kooperationen zwischen Unternehmen, Kassen und Bürgern, die sich nicht mehr entlang alter Rollen beschreiben lassen. Stattdessen entstehen Gefüge von Ermöglichern und Nutznießern. Das klingt abstrakt, ist aber hochpraktisch: Wer Prävention ernst nimmt, muss das System umbauen – von der Grundlage her. Die Daten spielen hier eine wichtige Rolle. Bevor wir jedoch zur Hyperpersonalisierung kommen, widmen wir uns der Automatisierung, die bereits agentische Konkurrenz erfährt.
Automatisierung: Begegnungstisch statt Behörde
Paul Burggraf formulierte es zugespitzt: »Die wertvollsten Gesundheitsdaten entstehen im Alltag der Versicherten. Wer sie klug nutzt, entwickelt sich als Gesundheitsakteur vom Kostenträger zum Gesundheitscoach.« Das betraf vor allem die Perspektive von Krankenkassen – aber die Pointe gilt für alle.
Automatisierung wird oft missverstanden. Es geht nicht darum, Menschen zu ersetzen, sondern sie freizusetzen. Je mehr die unsinnliche Wiederholung im Hintergrund verschwindet, desto sichtbarer wird vorn die Arbeit an Sinn und Entscheidung. Die Maschine nimmt nicht den Platz der Begegnung ein, sie schafft ihn erst.
Was maschinell erledigt werden kann, muss nicht mehr von Menschen geleistet werden – und gerade dadurch entsteht Raum für das, was nur Menschen können: Empathie, Urteilsvermögen, situatives Verstehen. Der Begegnungstisch wird nicht trotz, sondern wegen der Automatisierung möglich. Das ist die eigentliche Pointe der digitalen Transformation: Sie befreit das Menschliche, indem sie das Maschinelle auf seinen Platz verweist.
Hyperpersonalisierung: Individualisierung braucht Standardisierung
Fabian Kurth von Bristol Myers Squibb zeigte, wie Hyperpersonalisierung durch KI und vernetzte Plattformen die Medizin revolutioniert. Daten ermöglichen präzisere Diagnosen, individuellere Therapien und präventive Interventionen. Schon 2025 entstehen über 300 Terabyte Gesundheitsdaten pro Sekunde.
Aber hier kommt das Paradox: Je individueller die Intervention, desto strenger der Standard ihrer Ermöglichung. Der persönliche Well-Being-Coach ist nur deshalb möglich, weil Millionen von Datenpunkten in ein Muster überführt werden, das hinreichend stabil ist, um Abweichung als Abweichung zu erkennen. Personalisierung wird nur möglich, indem sie sich zuvor standardisiert – die Form führt sich selbst vor.
Was das bedeutet? Patient, Ärztin und System operieren nicht entlang derselben, sondern aufeinander einwirkender Unterscheidungen. Subjektives Erleben trifft auf objektive Messung, klinische Evidenz auf individuelle Situation, Regelfall auf Ausnahme. Die vermittelnde Instanz wird zur Schnittstelle dieser Beobachtungen – nicht zu ihrer Harmonisierung, sondern zu ihrer produktiven Reibung.
Was bleibt?
Nach drei Stunden im EY Studio bestätigt sich meine Vision: Die Zukunft der Gesundheit wird nicht an neuen Geräten entschieden, sondern daran, welche Unterscheidungen wir treffen. Prävention, Automatisierung und Hyperpersonalisierung sind keine isolierten Innovationsfelder, sondern Schauplätze fundamentaler Verschiebungen – entlang von Zeitlichkeit, Arbeitsteilung und Adressierung.
Die Frage ist nicht, ob diese Transformation stattfindet, sondern wie wir die zugrundeliegenden Unterscheidungen gestalten. Wer verstehen will, wie das konkret aussieht, findet in meiner ausführlichen Analyse zum EY Health Trend Day 2025 alle Details, Zitate und theoretischen Hintergründe.
Eins ist sicher: Das Gesundheitswesen steht am Kipppunkt. Und wer mitgestalten will, muss jetzt anfangen zu denken.

