Haferflocken-Community
Donnerstag, 24. April 2025
Die Verkleinerung von Müsliverpackungen und das Verstecken unangenehmer Wahrheiten hinter QR-Codes zeigen, wie Marken versuchen, Kunden in einen Dialog zu ziehen, während sie echte Gespräche vermeiden. Kommunikation sollte ehrlich und direkt sein – nicht digitalisiert und manipuliert.
ChatGPT 4o
»Werde Teil der Kölln-Welt!«, steht ganz unten auf der Micropage von Kölln. Was hat das mit einer Krankenkasse zu tun? Doch beginnen wir am oberen Ende der Verpackung.
Gestern Abend – nach einem kurzen Ostertrip – sind wir noch schnell in den Supermarkt, um den leeren Kühlschrank zu füllen. Dabei landete auch eine Schachtel Hafermüsli der Marke Kölln im Einkaufswagen. Heute Morgen beim Frühstück begrüßte mich eine grün eingefärbte Stelle an der Oberseite der Schachtel. Ein kurzer Text mit einem QR-Code.
Der Geschmack und die Qualität müssen bleiben – kompromisslos! Um dies zu gewährleisten, haben wir unsere Verpackung verkleinert. Lies hier mehr →
Die geschlossene Schachtel verweist auf eine neue Größe. Geklammert wird diese Information mit einer Fußnote am unteren Rand der Schachtel. Dort steht → JETZT 500 g.
Für Menschen, die nicht regelmäßig auf dieses Produkt von Kölln zurückgreifen, suggeriert das vielleicht, etwas mehr zu bekommen als sonst. Unter Inflationsbedingungen wäre das naiv, passiert aber trotzdem im Eifer des Schnelleinkaufs. Der hier angewendete Taschenspielertrick ist jedoch gar nicht mein Thema.
Meines Erachtens leiden wir unter einem Imperativ einer digitalen Gesprächskultur, das nicht immer sinnvoll erscheint.
Seit vielen Jahren diskutiere ich regelmäßig mit Krankenkassen darüber, ob und wie sich die Kommunikation mit ihren Versicherten neu gestalten lässt. Anlass ist die Transformation vom Kostenträger zur Wunschvorstellung, als Partner in Gesundheitsfragen wahrgenommen zu werden. Alles in allem ist nicht zu erkennen, dass man das wirklich ernst meint. Hauptaufgabe bleibt die Bereitstellung und Abrechnung von Versicherungsleistungen im Krankheitsfall.
Ein wenig hat das auch mit dem Phänomen auf der Müslischachtel zu tun. Viele Jahre schon versuchen uns Produkthersteller, Dienstleister und Marken in ein Gespräch zu verwickeln. Das wirkt mit Blick auf die zugelassene Vernetzung unserer Lebenspraxis folgerichtig. Social Media ist allgegenwärtig. Die Vernetzung von Menschen, die mit diesem kulturellen Hyperschritt global ins Gespräch kommen sollten, war einmal eine Hoffnung; bis die sozialen Netzwerke Geld verdienen mussten und uns in ihre Erregungsspirale lockten. Seitdem spähen sie unser Online-Verhalten aus, um uns gezielt Werbung zuzustellen. Das hat mittlerweile politische Auswirkungen.
Am Beispiel von Kölln-Hafermüsli Schoko lässt sich das verdeutlichen. Eigentlich drehen wir unsere Haferflocken selbst. Deshalb steht die Schachtel heute Morgen auf dem Küchentisch etwas verloren und wartet darauf, betrachtet zu werden.
Auf der Schachtel steht seit mindestens 24.08.2024 in auffälligem Grün der Hinweis auf eine ›Neue Grösse‹. Bei geschlossener Schachtel bleibt oben bereits präsentierte Teil des Textes im Sinne der Kompromisslosigkeit bei Geschmack und Qualität verborgen. Es sei denn, man öffnet die Schachtel. Dazu dreht sich verhältnismäßig klein und in brauner Farbe um die Schüssel auf der Mitte des Produkts der Hinweis, dass das Produkt 20 % feine Schokolade enthält. Darum geht es Kölln auch auf der Micropage. Dort ist in zahlreichen Rechtfertigungen zu erfahren, dass man von einer Rohstoffkrise ›getroffen‹ wurde. ›Klimabedingte Umweltkatastrophen‹ seien Grund dafür, dass sich eine ›extreme Verknappung‹ von Kakao ergeben habe, die zu kompensieren sei. Als ›einzige vertretbare Lösung‹ komme die Reduzierung des Gewichts je Packung infrage.
Hier die Übersetzung der Micropage, wie ich sie verstehe:
Wir haben ein industriell verarbeitetes Produkt geschaffen, das wir uns so nicht mehr leisten wollen. Der Deckungsbeitrag ist einfach nicht so, wie vor der Verteuerung von Kakao. Die beauftragten sogenannten Kommunikationsspezialisten haben sich Gedanken gemacht, wie sich die Verkleinerung der Schachtel im Rahmen eines medial nicht ganz ernst gemeinten Gesprächs vermitteln lässt. Stammkunden sollen besänftigt werden, deshalb folgen wir nicht nur dem Imperativ einer digital gestützten Gesprächskultur im Gewand einseitig adressierter ›Markennews‹ mithilfe einer Landingpage. Neukunden suggerieren durch geschickt angebrachte Elemente, dass sie vielleicht sogar mehr für Ihr Geld bekommen. So gewinnen wir vielleicht vergleichbar viele Neukunden, falls sich Stammkunden von dieser Botschaft nicht beeindrucken lassen.
Apropos Botschaft. Kunden, die über eine Lasche mit QR-Code auf eine Micropage geführt werden, um dort die unbequeme Wahrheit zu erfahren, empfinden so etwas naturgemäß nicht als Gespräch. Das Gespräch, das Zuhören, Konversation und seine vielfältigen Formen sind so alt wie der Mensch selbst und lassen sich nicht ohne weiteres über eine Müslischachtel arrangieren. Deshalb wird auf der Micropage und sehr wahrscheinlich omnipräsent im Online-Angebot auf die Einladung in die Kölln-Welt verwiesen. Wo auch immer diese sein soll. Ich vermute, ich darf Teil einer Haferflocken-Community werden. Tatsächlich werde ich dort nicht beitreten, rechne allerdings fest damit, dass mir Kölln aufgrund des Aufrufs der Micropage und mithilfe dort platzierte Datenkrumen künftig auf Instagram auflauern wird. Sollte ich bald eine Anzeige von Kölln oder einem anderen Hersteller von ›Loaded Haferflocken‹ mit zu viel Zucker (22/100 g) erhalten, reiche ich die an dieser Stelle nach.
Bemerkenswert ist auch der vorauseilende Ansatz. Aufgrund früherer Erfahrungen rechnet man bei Kölln offensichtlich mit einem Maß an Empörung unter Stammkunden, die nach direkter Kommunikation verlangen. Sie schicken heutzutage meist E-Mails oder hinterlassen online Kommentare, die dann emphatisch zugewandt und individuell beantwortet werden sollten. Doch gerade Stammkunden sind sensibler denn je. Jede mit Copy/Paste vermittelte Antwort auf eine Empörung spüren die Kunden, was schnell weitere Unzufriedenheit auslösen kann. Daher erscheint es sogar kostengünstiger, die Verpackung anzupassen, um so den echten Dialog zu vermeiden.
Meine Fragen an Euch
Wie steht Ihr zu den Angeboten von Markenherstellern, die Euch über den Genuss Ihrer Produkte in ein Gespräch verwickeln wollt?
Wie bewertet Ihr die Strategie von Unternehmen, unangenehme Botschaften (wie Preiserhöhungen oder Mengenreduzierungen) hinter QR-Codes und Micropage zu verstecken?
Was haltet Ihr von der Idee einer »Marken-Community« – würdet Ihr einer solchen beitreten, nur weil Ihr ein bestimmtes Produkt konsumiert? Folgt Ihr regelmäßig dieser Form von Einladungen auf Social-Media-Angeboten Eurer Lieblingsmarken.
Doppeldenk
Doppeldenk beschreibt die Fähigkeit, gleichzeitig zwei sich widersprechende Überzeugungen zu akzeptieren und für wahr zu halten. Es ist eine Form der kognitiven Dissonanz, bei der widersprüchliche Gedanken parallel existieren können. In diesem Fall bedeutet das, die Existenz eines unter dem Klimanotstand leidenden Produkts durch eine Kommunikation des Notstands zu kompensieren.
Im Marketing-Kontext, wie hier bei Kölln, zeigt sich Doppeldenk, wenn Unternehmen einerseits negative Veränderungen durch eine vom ›Klimanotstand‹ provozierte ›Verknappung bei Rohstoffen‹ dazu übergeht, jemanden mit der fragwürdig kreativen Aufgabe zu betrauen, ein Team zu bilden, die mehrere Tage darauf verwenden, eine neue Aufschrift für eine Müsliverpackung zu ›finden‹ und eine Internetseite in einem Rechenzentrum aufzulegen.
Dazu kommt die Einladung einer Haferflocken-Community, die lediglich als Abonnement eines Feeds bei TikTok und Instagram verstanden wird. Das sind alles Maßnahmen, die den Klimawandel eher verschärfen, weil rund um das Produkt zusätzlich CO₂ produziert wird, das nicht dazu eingesetzt wird, wahre Wertschöpfung zu betreiben.
Natürlich ist es ein vollkommen legitimes Anliegen, ein Produkt herzustellen und dafür zu werben. Die Frage ist nur, ob wir uns als Gesellschaft nicht langsam von der Vorstellung verabschieden müssen, dass jedes Produkt eine eigene digitale Welt um sich herum aufbauen muss. Vielleicht wäre es im Sinne der Nachhaltigkeit sinnvoller, wenn Unternehmen sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren würden: die Herstellung hochwertiger Lebensmittel zu einem fairen Preis. Die Kommunikation könnte dabei transparent und direkt sein, ohne den Umweg über künstlich geschaffene digitale Erlebniswelten.
Diese Form der Genügsamkeit in der Kommunikation wäre nicht nur ehrlicher, sondern auch nachhaltiger.
Kommen wir noch einmal zurück auf die oben erwähnten Krankenkassen. Wenn eine Krankenkasse es ehrlich meint mit einer Progression von Gesundheitskompetenz und dazu ein gelingendes Gesprächsangebot machen würde, wäre das ein Fortschritt. Dieser Text möchte eine Fährte legen, wie Krankenkassen ein solches Gespräch auf keinen Fall aufziehen sollten.