Kritische Rückschau auf die gestrige Lanz-Debatte über Meinungsfreiheit

Mittwoch, 28. Mai 2025

Die Debatte um Meinungsfreiheit zeigt, dass Emotionen und Diskursvulnerabilität oft die öffentliche Diskussion prägen. Wir müssen lernen, respektvoll zu kommunizieren, denn Meinungsfreiheit kann schnell zum Vorwand für deren Abbau werden.

Frank Stratmann (bei Jagdhaus)

Die Sendung »Markus Lanz« vom 28. Mai 2025 zum Thema Meinungsfreiheit geriet zu einer exemplarischen Vorführung der aktuellen Herausforderungen im öffentlichen Diskurs. Die Runde, besetzt mit Renate Künast, Ulf Poschardt, Maren Urner und Boris Palmer, offenbarte nicht nur die Kluft zwischen rechtlich garantierter Meinungsfreiheit und subjektiv empfundener Einschränkung, sondern auch, wie tiefgreifend Emotionen und eine von Frauke Rostalski als »Diskursvulnerabilität« beschriebene Empfindlichkeit die Debattenkultur prägen.

Die Sendung hat uns alle müde zurückgelassen, ohne dass wir danach sofort hätten einschlafen können. Verrückt genug, dass ich mich heute Vormittag noch einmal damit beschäftigt habe. Vermutlich, weil ich gerade die Bücher »Die gereizte Gesellschaft« (Pörksen), »Die aufgeregte Gesellschaft« (Hübl) und »Die vulnerable Gesellschaft« (Rostalski) gelesen habe. Maren Urners Buch »Radikal Emotional« liegt schon wieder ein paar Monate hinter mir.

Mag dieser Beitrag ein Beitrag sein für den Beweis, dass ich mich im Sinne einer intellektuellen Intervention nachträglich zu Wort melden kann. Über ein generöses Teilen dieses Nachklangs freue ich mich besonders, weil damit Beweis geführt wird, dass wir über Meinungsfreiheit im Sinne der Redefreiheit etwas Freies meinen dürfen. Ich hoffe, mein Meinen ist nicht gemein.

Die Macht der Emotionen und die Tücken der Umfrage

Den entscheidenden methodischen Hinweis zur viel zitierten Allensbach-Umfrage, wonach nur noch 40 % der Deutschen das Gefühl haben, ihre Meinung frei äußern zu können, lieferte die Neurowissenschaftlerin Maren Urner. Sie betonte zu Recht, dass die Frage explizit ein »Gefühl« abfragt. Dies ist ein zentraler Punkt, denn er verweist auf die von Urner auch in ihrem Buch thematisierte »radikale Emotionalität«, die Diskurse heute oft überlagert. Hier trifft ihre Beobachtung auf die Analyse von Frauke Rostalski in »Die vulnerable Gesellschaft«. Rostalski beschreibt »Diskursvulnerabilität« als eine »besondere Verletzlichkeit in der gegenseitigen Kommunikation«, bei der »das bloße Sprechen über ein bestimmtes Thema […] stark negative Gefühle der Betroffenheit auslösen kann«.

Die Zahl von Allensbach repräsentiert übrigens die Stimmung unter 1.067 Befragten ab 16 Jahre und ist zurückzuführen auf die Umfrage »Media Tenor« in den Jahren zwischen 1990 bis 2023. Demnach hatten im Jahr 1990 etwa 78 % das Gefühl, frei reden zu können. Die Daten wurden innerhalb der vergangenen 35 Jahre in persönlichen Interviews erhoben. Die Umfrage wurde von der Schweizer Organisation Media Tenor beim Institut für Demoskopie Allensbach in Auftrag gegeben.

Die Allensbach-Zahlen spiegeln somit weniger eine tatsächliche rechtliche Einschränkung als vielmehr eine wachsende gesamtgesellschaftliche Diskursvulnerabilität und die damit einhergehende Verwechslung zwischen dem Rechtstatbestand der freien Meinungsäußerung und dem persönlichen Empfinden widerspiegeln. Maren Urner hat versucht, diesen Unterschied an mehreren Stellen in der Lanz-Sendung vom 28. Mai 2025 klarzumachen. Alles das traf aber entweder auf anekdotische Evidenz von Boris Palmer oder auf den radikal-liberalen Habitus von Ulf Poschardt.

Gerade wegen der sich Weg bahnenden »radikalen Emotionalität« und der daraus resultierenden Verletzlichkeit müssen wir über den real existierenden Diskursverfall sprechen. Und zwar konstruktiv. Mit Pörksen gedacht, dürfen wir neu lernen, wie »Zuhören« geht. Im gleichnamigen Buch macht der Tübinger Medientheoretiker darauf aufmerksam, wie sehr uns dabei unser subjektives Prisma (Arlie Russel) im Weg steht.

Palmers Anekdoten und die gefühlte Enge

Boris Palmers Schilderungen seiner Erfahrungen mit »Shitstorms« und dem Vorwurf, durch die »simple Benutzung eines Wortes, das im Duden steht« politisch »komplett ins Abseits gestellt zu werden«, scheinen auf den ersten Blick nicht zur Stoßrichtung der Allensbach-Grafik zu passen, die ja eine Abnahme des Gefühls freier Meinungsäußerung über die Jahre dokumentiert. Doch gerade Palmers »anekdotische Evidenz« illustriert die Mechanismen, die zu diesem Gefühl der Vorsicht und Enge beitragen. Seine Erfahrungen sind Beispiele für die Konsequenzen, die in einem Klima der Diskursvulnerabilität drohen und die von Rostalski beschriebene »Diskursverrohung« und »Ausgrenzung« widerspiegeln. Rostalski ist übrigens Juristin und kennt sich mit der rechtlichen Dimension von Meinungsfreiheit aus. Palmers Beobachtungen an sich selbst stehen deshalb nicht im Widerspruch zur Umfrage, sondern beleuchten die Ursachen für deren Ergebnisse: die Angst vor sozialer Ächtung und emotionaler Verletzung, die das »Gefühl« der Unfreiheit nähren.

Poschardts Machtgestus im vulnerablen Raum?

Ulf Poschardt, mittlerweile Herausgeber der »Welt«, agierte in der Debatte oft undiplomatisch. Seine teils herablassenden Reaktionen auf Maren Urners Versuche, die emotionalen und neurowissenschaftlichen Dimensionen des Diskurses zu beleuchten (»seminarhaft«, »halbschlaue Ableitungen«), zeugten von einer spürbaren Abneigung und wirkten wie die eines »Elefanten im Porzellanladen«. Es drängt sich der Eindruck auf, dass er sich – möglicherweise aufgrund seiner publizistischen Position – für unantastbar hält. Während er valide Punkte zur Notwendigkeit eines weiten Rahmens für freie Rede und zur Kritik an einer gewissen »Dünnhäutigkeit« machte, konterkarierte sein eigener konfrontativer Stil jeden Versuch eines konstruktiven Austauschs über die von Urner angesprochenen Probleme im Diskurs.

Frauke Rostalski weist auf »Abwehrreaktionen« als Folge von Diskursvulnerabilität hin – Poschardts Verhalten könnte, wenn auch aus einer Machtposition heraus, als eine solche interpretiert werden, die die zugrundeliegende Problematik eher verstärkt als adressiert.

Mehr als nur rechtliche Garantien

Die Sendung bei Markus Lanz verdeutlichte eindrücklich, wie sich die Debatte um Meinungsfreiheit nicht in der juristischen Dimension erschöpft. Sie ist zutiefst geprägt von Emotionen, subjektiven Wahrnehmungen und einer zunehmenden »Diskursvulnerabilität«, die den Einzelnen verunsichert und zu Rückzug oder aggressiver Abwehr führen kann.

Maren Urner hat mit ihrem Fokus auf die emotionale Ebene einen wunden Punkt getroffen. Eine Gesellschaft, die einen offenen und zugleich respektvollen Diskurs pflegen will, muss sich dieser Vulnerabilität stellen. Es geht nicht nur darum, was gesagt werden darf, sondern auch darum, wie wir miteinander sprechen und welche emotionalen und damit sozialen Kosten ein offenes Wort haben kann.

Ein wiederkehrendes und historisch belegtes Muster zeigt, dass bestimmte Akteure die Meinungsfreiheit instrumentalisieren: Sie fordern diese vehement ein und präsentieren sich als deren Verfechter, um an die Macht zu gelangen. Sobald sie dieses Ziel erreicht haben, schaffen sie jedoch genau jene Meinungsfreiheit wieder ab, die ihnen zuvor als Vehikel diente. Diese paradoxe Entwicklung, bei der die Meinungsfreiheit als Vorwand für ihre spätere Demontage genutzt wird, stellt eine erhebliche Gefahr für demokratische Strukturen dar.

Hier liegt, wie Rostalski argumentiert, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die über die reine Inanspruchnahme von Rechten hinausgeht und eine Kultur der »Anerkennung und des Respekts vor der Verletzlichkeit des anderen« erfordert, um die »demokratische Deliberation« nicht zu gefährden.

Die Lanz-Sendung war also – so müde ich wach gelegen habe – ein Lehrstück darin, wie weit der Weg dorthin noch ist und womöglich nicht erreicht wird. Was unsere Aufgabe jetzt ist, nicht der Habermas’schen Lichtgeschwindigkeit nach einem herrschaftsfreien Diskurs nachzueifern, sondern die Machtgefüge, die gerade zutage treten, im Blick zu halten und die Demokratie vor totalitären Tendenzen zu schützen.

Unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit lassen wir Menschen an die Macht, die sich als deren Verfechter ausgeben. Sobald sie die Macht errungen haben, schaffen sie genau diese Meinungsfreiheit ab. Das ist das Absurde, das wir in der Geschichte immer wieder beobachten durften.

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Frank Stratmann

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Ich bin Frank Stratmann – ein Cultural-Foresight-Analyst und Designer für deliberative Kommunikation.
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