Made for Germany und die Inszenierung von Diversität, die keine ist

Freitag, 25. Juli 2025

Im digitalen Zeitalter wird moralische Empörung oft zur Selbstinszenierung, während echte Probleme ignoriert werden. Die »Made for Germany«-Kontroverse zeigt, wie symbolische Repräsentation strukturelle Veränderungen ersetzt und moralische Diskurse vereinfacht.

Kommentar

In der modernen, digitalisierten Kommunikationslandschaft gewinnt ein besonderes Phänomen zunehmend an Bedeutung: das Moralspektakel. Der Philosoph Philipp Hübl charakterisiert es als ›Moral als Show‹ – eine Praxis, bei der ethische Positionen nicht zur tatsächlichen Problemlösung dienen, sondern instrumentalisiert werden. Statt gesellschaftliche Herausforderungen konstruktiv anzugehen, fungieren moralische Urteile und Empörung primär als Mittel der Selbstinszenierung und des sozialen Statusspiels. Diese Instrumentalisierung ethischer Standpunkte für soziale Zwecke verdrängt zunehmend den eigentlichen Diskurs über substanzielle Lösungsansätze.

Die Analyse moralischer Kommunikation im digitalen Zeitalter offenbart eine zunehmende Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und tatsächlicher Wirkung. Hübls Konzept des Moralspektakels bietet einen analytischen Rahmen, um diese Phänomene präzise zu erfassen und ihre gesellschaftlichen Implikationen zu verstehen.

Anatomie eines Moralspektakels

Ein exemplarisches Beispiel für ein Moralspektakel der Gegenwart ist die Kontroverse um die Präsentation der Wirtschaftsinitiative »Made for Germany« im Juli 2025 am Bundeskanzleramt. Die Vorstellung dieser Wirtschaftsoffensive durch Bundeskanzler Friedrich Merz gemeinsam mit führenden Wirtschaftsvertretern löste eine Welle der Empörung in sozialen Medien aus – der Grund: auf dem Präsentationsfoto waren ausschließlich weiße Männer mittleren bis höheren Alters zu sehen.

Was als Wirtschaftsinitiative zur Stärkung des Standorts Deutschland konzipiert war, transformierte sich binnen Stunden zu einer hitzig geführten Debatte über mangelnde Diversität in Führungspositionen. Die mediale Gereiztheit eskalierte, als ein prominenter Journalist das Bild mit einem Foto aus den 1950er Jahren verglich und von einem »anachronistischen Albtraum« sprach. Binnen weniger Tage erschienen über 200 Kommentare in überregionalen Medien.

Diese Kontroverse manifestiert typische Merkmale eines Moralspektakels nach Hübl: Ein symbolisches Ereignis (das Gruppenfoto) generierte unverhältnismäßig intensive moralische Reaktionen. Die Mehrheit der Kommentatoren instrumentalisierte den Vorfall primär zur Signalisierung ihrer eigenen ethischen Position, während die strukturellen Ursachen für den Mangel an Diversität in deutschen Führungsetagen kaum substantielle Beachtung fanden.

Besonders signifikant erscheint in diesem Kontext eine Beobachtung, die selten artikuliert wurde: Als Angela Merkel noch Kanzlerin war, wurden ähnliche Gruppierungen von Wirtschaftsvertretern selten mit derselben Intensität kritisiert, obwohl auch damals die Diversität mangelhaft war. Die weibliche Kanzlerin schien als Einzelperson ausreichend, um die Illusion von Ausgewogenheit zu erzeugen. Erst mit einem »Alphatier« wie Friedrich Merz als Kanzler, der in seiner Erscheinung die bestehende Homogenität des Machtapparats noch verstärkt, wird das strukturelle Problem zum medialen Sommermärchen.

Konstitutive Elemente für ein Moralspektakel

Philipp Hübl identifiziert in seinem gleichnamigen Werk »Moralspektakel« folgende charakteristische Merkmale:

  • Ein eklatantes Missverhältnis zwischen einer symbolischen Repräsentation (hier: das Gruppenfoto) und einer disproportional intensiven Empörungsreaktion

  • Die Instrumentalisierung moralischer Urteile als ›teure Signale‹ zur Demonstration der eigenen moralischen Integrität oder sozialen Zugehörigkeit

  • Die strategische Nutzung moralischer Argumente als Instrument im sozialen und politischen Diskurs

  • Eine inhärente Verbindung zu digitalen Kommunikationsplattformen, die diese Form der moralischen Selbstinszenierung katalysieren

Mit dem Aufkommen und der Verbreitung digitaler Medien seit etwa 1990, so Hübl, sind moralische Äußerungen im virtuellen Raum zunehmend zu ›billigen Signalen‹ verkommen. Diese dienen vorrangig der eigenen Imagepflege und sozialen Positionierung, während echtes moralisches Handeln nach wie vor erhebliche persönliche Investitionen erfordert.

Typologie moralischer Kulturen

Besonders aufschlussreich ist Hübls differenzierte Analyse dreier distinktiver Moralkulturen, die sich im Fall »Made for Germany« manifestieren:

  • Ehrenkultur: Die Wirtschaftsvertreter und das Kanzleramt verteidigen ihre Ehre gegen den Vorwurf der Rückständigkeit, indem sie auf Kompetenz statt Identitätsmerkmale verweisen

  • Würdekultur: Vertreter dieser Position argumentieren sachlich für Diversität als Mehrwert, ohne persönliche Angriffe

  • Opferkultur: Eine Manifestation, die Hübl als inszenierte Variante des Moralspektakels charakterisiert, gekennzeichnet durch exzessives öffentliches Mitgefühl für marginalisierte Gruppen, häufig ohne deren explizites Mandat – hier exemplifiziert durch Kommentatoren, die vorgeben, im Namen aller Frauen und Minderheiten zu sprechen

Als potenzielles Korrektiv postuliert Hübl die Kultivierung ›moralischer Bescheidenheit‹. Dieses Konzept impliziert die reflexive Einsicht in die Limitationen und potenzielle Fehlbarkeit der eigenen moralischen Urteile, was zu einem konstruktiveren gesellschaftlichen Diskurs beitragen könnte.

Die ›Made for Germany‹-Kontroverse demonstriert die Paradoxie moderner Moralspektakel: Die intensive Debatte über die mangelnde visuelle Repräsentation von Diversität verdrängt die substantielle Auseinandersetzung mit den Strukturen, die diese Homogenität hervorbringen. Die symbolische Repräsentation wird zum Ersatz für strukturelle Veränderung – ein Phänomen, das bereits von der französischen Theoretikerin Chantal Mouffe als »Post-Politik« beschrieben wurde, in der moralische Entrüstung das Politische ersetzt.

Dieser Fall illustriert das Konzept der sozialen Mythologie in der zeitgenössischen Medienlandschaft. Bei der Analyse solcher Phänomene zeigt sich, wie symbolische Ereignisse zu Projektionsflächen für gesellschaftliche Spannungen werden. Die »Made for Germany«-Kontroverse funktioniert dabei als Mikrokosmos größerer Identitätsfragen, vergleichbar mit dem Phänomen der "moralischen Panik" nach Stanley Cohen: Ein zunächst banales Ereignis wird zum Katalysator für einen intensiven gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, bei dem weniger das konkrete Ereignis als vielmehr dahinterliegende Wertekonflikte und Machtverhältnisse zur Debatte stehen.

Diskussion

Die Analyse des »Made for Germany«-Falls durch die Linse von Hübls Moralspektakel-Konzept enthüllt die komplexen Mechanismen der öffentlichen Moral im digitalen Zeitalter. Das Gruppenfoto fungiert als visueller Kristallisationspunkt für langfristige strukturelle Probleme, deren Komplexität in der medialen Verarbeitung jedoch auf eine simplifizierende moralische Binärcodierung reduziert wird.

Besonders aufschlussreich ist die historische Kontingenz der Empörung: Dasselbe strukturelle Problem – die Homogenität deutscher Führungsetagen – erzeugte unter Angela Merkel wesentlich geringere moralische Resonanz. Dies deutet darauf hin, dass das Moralspektakel selektiv operiert und häufig von kontextuellen Faktoren abhängig ist, die jenseits des eigentlichen moralischen Gehalts liegen.

Die Herausforderung besteht darin, einen Diskurs zu etablieren, der weder in unreflektierte Empörung noch in zynische Ignoranz verfällt. Eine differenzierte Analyse der strukturellen Bedingungen, die zur mangelnden Diversität führen, verbunden mit konkreten politischen Handlungsoptionen, könnte einen Ausweg aus der Sackgasse des Moralspektakels bieten.

Was ist Deine Einschätzung zu diesem Fall? Hattest Du auch das Gefühl, Dich für eine Seite entscheiden zu müssen? Wenn Du magst, kannst Du mir Deine Wahrnehmung gern persönlich schreiben.

Frank Stratmann

AVAILABLE FOR WORK

Ich bin Frank Stratmann – ein Cultural-Foresight-Analyst und Designer für deliberative Kommunikation.
Bekannt als @betablogr.

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