Multipolarität kurz gelesen
Freitag, 17. Oktober 2025
Warum Emmanuel Todd trotz Zuspitzungen ernst zu nehmen ist: belastbare demografische Frühindikatoren, longue durée‑Perspektive und überprüfbare Hypothesen – gelesen als Stresstest‑Narrativ für eine asymmetrische Multipolarität.
Vignette
Multipolarität ist kein plötzlicher Systemwechsel, sondern ein Verschieben von Gewichten – ökonomisch, technologisch, symbolisch. Der Historiker Emmanuel Todd deutet die Lage als »Niederlage des Westens«; tragfähig ist daran die Sensibilität für demografische und industrielle Bruchlinien, weniger die Totaldiagnose (1).
Warum Todd glaubwürdig ist
Frühwarnkompetenz: Todd nutzte demografische Indikatoren (Alphabetisierung, Fertilität, Kohortenbildung), um gesellschaftliche Kipppunkte zu erkennen. Berühmt ist seine frühe These zum Zerfall der UdSSR, die ex post nicht zufällig, sondern methodisch begründet war (2).
Methode der longue durée: Er liest Strukturtrends über Jahrzehnte und koppelt sie mit Institutionen‑ und Kulturdeutungen. Das begünstigt robuste Signale jenseits von Quartalsdaten (1)(3).
Überprüfbarkeit: Seine Thesen sind falsifizierbar. Ob sich »asymmetrische Multipolarität« verstetigt, lässt sich an Handelsmustern, Industrieanteilen, Finanzdominanz, Technologie‑Clustern und Allianzen messen – also an klaren Beobachtungsreihen, nicht nur an Deutungen (1).
Produktive Provokation: Als Szenario‑Autor zwingt Todd zur Gegenprüfung etablierter Selbstbilder. Der Erkenntnisgewinn liegt in der Reibung: Welche Annahmen halten empirisch, welche nicht (1)(3)?
Kulturelle Lesart à la Ebert
In einer kulturellen Lesart wirkt Multipolarität wie ein Erzählwechsel: Narrative der Selbstgewissheit verlieren Bindekraft, Gegen‑Erzählungen gewinnen Resonanz. Entscheidend ist, welche Sinnangebote institutionell anschlussfähig werden – nicht, wer einmalig »gewinnt«. Für Deutschland hieße das: nüchternes Resilienz‑Handwerk statt Abgesang (1).
Woran messen?
Industrie‑ und Exportstruktur: Anteil höherwertiger Industrie, Energieintensität, Re‑Shoring‑Tendenzen
Finanz‑ und Technologiekapazitäten: Kapitalmarkttiefe, Halbleiter‑ und KI‑Wertschöpfung, Standardsetzung
Allianz‑ und Normmacht: Bündnisdichte, Sanktionswirkung über Zeit, Adoptionsraten für Standards
Literaturverzeichnis
1) Todd, E. (2024). La Défaite de l'Occident. Weltbild.
2) Todd, E. (1976). La Chute Finale: Essai sur la décomposition de la sphère soviétique. Paris: Robert Laffont.
3) Todd, E. (2025). Diverging Populisms; Dislocation de l'Occident: les menaces. Essays.
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