Wann haben wir verlernt, Meinungen auszuhalten?
Mittwoch, 26. Februar 2025
"Die Frage, wann wir verlernt haben, andere Meinungen auszuhalten, spiegelt den Pessimismus und Relativismus unserer Zeit wider. Im postfaktischen Zeitalter fehlt es uns an Orientierung und Sinn, während wir uns in einem ausgeprägten Nihilismus verlieren."
Bewusst mit Frostfolie überzogenes Bild von Bierleichen auf dem Oktoberfest (generiert)
Auf dem Bild ist im bayerischen Sinne eine fesche Dame zu sehen, die hinter der Weichzeichnung aus Bierkrug und dem eingefügten Schriftzug verschwindet. Der Spruch im Bild, mutmaßlich aufgenommen auf dem Oktoberfest, zeugt von einem angedeuteten Framing, das mit Ablehnung korrespondiert.
»Hätte ich gewusst, was Du beruflich machst, hätte ich Dir kein Bier ausgegeben«.
Im weiteren Text unter dem Bild, das mir auf LinkedIn zugespielt wurde, berichtet die in einem Dirndl gekleidete Mitarbeiterin der Atomindustrie, dass sie hinter ihrem Job und der friedlichen Nutzung der Kernkraft steht. Näheres wird nicht bekannt; nur, dass sie sich nicht als Aktivistin pro Atomkraft versteht und niemanden ungefragt belehrt. Wenn sie jedoch angesprochen wird, fallen ihr ausreichend Argumente für Atomstrom ein. Und das teilt sie dann auch leidenschaftlich.
Im Beitrag der Dame unter dem Bild versteckt sich die Frage, die dieser Vignette ihren Titel gibt.
»Wann haben so viele Menschen eigentlich verlernt, andere Meinungen einfach mal auszuhalten?«
Diese Frage lässt sich tatsächlich hervorragend beantworten. Deshalb schreibe ich sie hier auf.
Der Postmodernismus begann ungefähr vor 50 Jahren. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als auch die Kernkraft temporär an gesellschaftlicher Akzeptanz gewann. Seitdem verließen sich die Menschen immer stärker auf die eigenen Konstrukte. Das machte sie pessimistisch, weil sie keine Lust mehr hatten anzuerkennen, dass Dinge in komplexen Beziehungen zueinander stehen. Doch wie die Kernkraft lässt sich ihr evident risikobehaftetes Wesen nicht einfach auf ihre wissenschaftliche Genialität hin runter dekonstruieren, um damit verbundene Schwierigkeiten zu beseitigen.
Ich kenne die Argumente beruflich beteiligter Befürworter nicht genug und will auch nicht darauf hinaus.
Mir geht es um den poststrukturalistischen Teil, der aus einem Weltbild, das auf Wissenschaft beruhte, eine Ruine machte, die wir heute postfaktisches Zeitalter nennen dürfen, weil die Menschen post jeder Tatsache einen Großteil ihres Handelns ausrichten.
Handeln kann stets begründet werden. Verhalten seltener. Wenn als Grund jedoch ein privat hegemonialer Kanon aus sozialem Meinungskonstruktivismus gemeint ist, wird es schwierig.
Der sich einstellende Relativismus wurde schon in den 1980er-Jahren immer stärker der Objektivität vorgezogen. Heute, auf dem Höhepunkt des Antirealismus, werden nicht einmal mehr Ideale formuliert. Wir erleben einen ausgeprägten Nihilismus, der sich über jede Moral stellt. Allenfalls bringen einige, von der Elitenüberproduktion hervorgebrachte Brahmanen, teure Signale der Moralisierung zum Ausdruck. Da helfen keine wissenschaftlichen Fakten mehr – weder bei Kernkraft noch bei Viren. Wir treten über zur Stufe des Fatalismus, der die Zustände der Massen nach dem Bierzeltbesuch recht genau veranschaulicht. Jene Wohlstandsverwahrlosung, die sich einstellt, wenn die Orientierung nicht zurückkehrt, weil die Kontexte zusammengebrochen sind.
Ach so … und irrational – weil das Wort mit dem eingangs erwähnten Bild erwähnt wurde – ist für sich kein Argument. Der Vernunftbegriff leidet derzeit genau wie die Orientierung primär unter dem Zusammenbruch der Kontexte (vgl. Pörksen, »Große Gereiztheit«, 2020). Orientierung ist ein anderes Wort für Sinn. Der Sinn scheint uns abhandengekommen zu sein.
Als Gesellschaft schaffen wir es in manchem Zusammenhang nicht mehr, uns von Gründen leiten zu lassen. Die strukturelle Rationalität ist in manchem Sinn der privaten Hegemonie gewichen. Das macht uns derzeit maximal unfrei – bei nach wie vor hohem Wohlstand und Gerede vom Liberalismus, der in seiner politischen Form gerade erst aus dem Parlament geflogen ist. Toxischer geht es kaum. Was macht das schon ein wenig Alkohol? Auch, wenn er keine Lebensfreude mehr schenkt. Prost!