Was haben Sie denn?
Dienstag, 10. Juni 2025
Jonas kämpft mit unsichtbarem psychischem Stress und der Angst, den Erwartungen nicht zu genügen. Ein Krankschreibungsgespräch wird zum Verhör, während die Gesellschaft über "Blaumachen" und Leistungswillen diskutiert, ohne die wahren Ursachen zu erkennen.
Gemini Imagine 4
Vom Blaumachen und fiebriger Angst
Der Wecker klingelte bereits um sechs. Es ist jetzt kurz vor sieben, und Jonas sitzt auf seiner Bettkante. Er trägt nur eine Boxershorts. Draußen wird es hell, ein grauer, unentschlossener Morgen. Jonas starrt auf seine Hände. Sie zittern nicht, sie sind nicht verschwitzt. Er fühlt seine Stirn. Keine Temperatur. Kein Kratzen im Hals, kein Druck auf den Nebenhöhlen. Nach allen herkömmlichen Maßstäben ist er gesund.
Trotzdem fühlt sich der Gedanke an die Arbeit wie eine physische Last an. Das Meeting um neun, die Präsentation, die E-Mail-Flut, die schon auf ihn wartet. Es ist nicht die Arbeit selbst, es ist das Gefühl, das sie begleitet: eine diffuse, nagende Angst, den Erwartungen nicht zu genügen, einen Fehler zu machen, was alles ins Wanken bringt. Ein leises Rauschen im Kopf, das seit Wochen lauter wird.
»Ich kann nicht«, flüstert er in den leeren Raum. Aber wer würde das verstehen?
Gestern Abend lief im Fernsehen eine Talkshow. Ein Kommentator sprach von der »Generation Wehleidig«, die bei der kleinsten Unpässlichkeit »blaumacht«. Die Schlagzeilen der Online-Portale, die er vor dem Einschlafen überflogen hatte, erzählten ähnliche Geschichten vom sinkenden »Leistungswillen«. Die Worte hallen in seinem Kopf nach, mischen sich mit der Stimme seiner Eltern: »Reiß Dich zusammen, Mensch.«
Er greift zum Handy und wählt die Nummer der Arztpraxis. Was soll er sagen? »Ich fühle mich arbeitsunfähig«? Der Satz klingt falsch, anmaßend. Er hat kein EKG, das einen Ausreißer zeigt, keinen Laborwert, den man rot einkreisen könnte. Er rechnet auch nicht damit, dass da etwas angezeigt würde. Seine Krankheit ist unsichtbar, eine Komposition aus Ängsten auf verschiedenen Ebenen, die sich bisher nicht zu einem Magengeschwür oder einem handfesten Burn-out verdichtet haben.
Die Sprechstundenhilfe geht ran, ihre Stimme ist freundlich, aber geschäftig. »Praxis Dr. Möller, guten Morgen.«
Jonas zögert. »Guten Morgen. Mein Name ist Jonas Berger. Ich … ich bräuchte eine Krankschreibung.«
»Was haben Sie denn?«
Die Frage ist Standard, reine Routine. Aber für Jonas fühlt sie sich an wie ein Verhör. Er ist jetzt nicht mehr nur Patient, er ist Antragsteller. Er muss beweisen, dass sein Zustand legitim ist. Er muss ein Gutachten für seine Seele einholen.
»Es ist … schwer zu beschreiben«, beginnt er und spürt, wie lächerlich er sich vorkommt. »Psychischer Stress. Erschöpfung. Ich habe keine körperlichen Symptome, aber …«
Er lässt den Satz in der Luft hängen. Die Stille am anderen Ende der Leitung dauert nur eine Sekunde, fühlt sich aber an wie eine Minute. Eine Minute, in der über sein Gefühl, seinen Zustand, seine Wahrheit gerichtet wird. Er bekommt einen Termin für die Videosprechstunde. Als er auflegt, ist er nicht erleichtert. Die Krankmeldung ist kein Trost, sondern nur eine Atempause in einem System, das ihn zwar ausfallen, aber nicht wirklich krank sein lässt. Die eigentliche Ursache, die tonnenschwere Decke aus Existenzangst und dem Gefühl des ständigen Getriebenseins, bleibt unangetastet.
Ich vermute, diese Geschichte passiert häufiger, als wir es uns als Gesellschaft eingestehen. Derzeit läuft wieder der Diskurs ums Blaumachen, um verloren gegangenen Leistungswillen einer Gesellschaft, die sich nicht zielführend mit Abstiegs- und Existenzängsten beschäftigt. Lieber suchen wir den Ausweg in Diffamierungen. Marginalisierte Gruppen werden skizziert, zu denen man sich selbst nicht zählen wird. Trotzdem wird litaneiartig geurteilt. Wer ist eigentlich gemeint?
Die Gründe dafür liegen womöglich doch in systemischen Ursachen, die wir derzeit nicht benennen wollen. Deskriptionsangst nennen das die Diskursanalysten mittlerweile. Existenz- oder Abstiegsängsten, die bisweilen durch Ausfallerholung kompensiert werden wollen. Als Gesellschaft und Gesundheitssystem dahinter zu steigen, ist die Aufgabe. Das Fordern nach mehr Leistungswillen eher nicht.
Die strukturellen Ursachen sind im Text oben verklausuliert, treten jedoch deutlich hervor. Wenn Du Lust hast, darüber zu sprechen, greife Dir ein Zeitgeschenk aus meinem Kalender.