Weltbild & Ideologie

Komplexität als Normalfall

Update vom 20.11.2025

Wie sich ein neuer Vernunftsbegriff zwischen Netzwerk, Realismus und praktischer Philosophie herausbildet

Wie sich ein neuer Vernunftsbegriff zwischen Netzwerk, Realismus und praktischer Philosophie herausbildet

Die moderne Gesellschaft hat sich lange an der Idee orientiert, dass Vernunft als universelles Ordnungsprinzip dient. Sie versprach, die verschiedenen Rationalitäten – von Wirtschaft über Politik bis zur Kunst – auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Doch dieses Versprechen löst sich zunehmend auf. Wir erleben einen grundlegenden Wandel: Komplexität wird nicht mehr als Problem diagnostiziert, das es zu lösen gilt, sondern als Normalfall anerkannt. Diese Verschiebung markiert den Übergang von einer Kultur der Vernunft zu einer Kultur der Komplexität und fordert einen neuen Vernunftsbegriff heraus.

Von der integrativen Vernunft zur Synchronisation

Dirk Baecker beschreibt die Kultur der Komplexität als wesentliches Merkmal der Netzwerkgesellschaft. (1) Während die Kultur der Vernunft in der funktional differenzierten Gesellschaft versuchte, unterschiedliche Bereiche durch vernunftbasierte Inklusion zu verbinden, zeichnet sich die Kultur der Komplexität durch das Bewusstsein für die Gleichzeitigkeit und Überlagerung verschiedener Systemreferenzen aus. Technik, Körper, Gehirn, Gesellschaft und kulturelle Praxis folgen eigenen Logiken, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner reduziert werden können.

Die Reduktion auf einen gemeinsamen Nenner war unter der Kultur der Vernunft einfacher, weil sie auf einem grundlegenden Prinzip basierte: der Vernunft selbst als universelles Ordnungsprinzip. Diese vernunftbasierte Herangehensweise bot einen einheitlichen Referenzrahmen, eine Art Metasprache, die es ermöglichte, die verschiedenen funktionalen Bereiche unter einem gemeinsamen Paradigma zu betrachten. Vernunft war eng mit Hierarchie verknüpft – mit einer Ordnung von oben nach unten.

Im Gegensatz dazu erkennt die Kultur der Komplexität an, dass verschiedene Systemreferenzen eigenen, nicht aufeinander reduzierbaren Logiken folgen. Statt einer Reduktion geht es um die Anerkennung der Gleichzeitigkeit und deren Synchronisation in ihrer Komplexität. Wie Carole Crumley bereits 1995 feststellte: Komplexe Systeme müssen weder in der natürlichen noch in der sozialen Welt von oben nach unten organisiert sein. (2) David Graeber und David Wengrow zeigen in ihrer anthropologischen Forschung, dass Städte sehr früh und in vielen Teilen der Welt als bürgerliche Experimente entstanden, »denen häufig die erwarteten Merkmale administrativer Hierarchie und autoritärer Herrschaft fehlten«. (3)

Die komplexe Netzwerkgesellschaft lässt sich demnach als konfigurative Mischform aus Hierarchie und Heterarchie bezeichnen – ein System, in dem Elemente nicht zwingend in einem Über- und Unterordnungsverhältnis stehen, sondern mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander existieren.

Maximal unendliche Komplexität anerkennen

Der Neue Realismus bietet eine erkenntnistheoretische Grundlage für diesen Wandel. Markus Gabriel argumentiert, dass wir Dinge und Tatsachen an sich erkennen können, diese aber nicht einem einzigen Gegenstandsbereich – »der Welt« – angehören. (4) Seine These »Warum es die Welt nicht gibt« entspricht der Anerkennung verschiedener, nicht aufeinander reduzierbarer Systemlogiken in der Kultur der Komplexität.

Der Neue Realismus wendet sich gegen totalisierende Weltbilder und konstruktivistische Positionen gleichermaßen. Er geht davon aus, »dass wir die Welt so erkennen, wie sie an sich ist«, ohne sie jedoch als singuläres Ganzes zu betrachten. (5) Die Welt ist weder ausschließlich die Welt ohne Zuschauer noch ausschließlich die Welt der Zuschauer. Diese Position ermöglicht es, die Vielfalt und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Systeme und Perspektiven anzuerkennen, ohne diese auf einen gemeinsamen Nenner reduzieren zu wollen.

Damit steht der Neue Realismus in einer interessanten Beziehung zur Kultur der Komplexität: Beide teilen die Grundannahme, dass Vielfalt und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Systeme anzuerkennen sind. Während die Kultur der Komplexität die Synchronisation verschiedener Systemreferenzen betont, unterstreicht der Neue Realismus erkenntnistheoretisch die Existenz unendlich fragmentierter Sinnfelder. Die Kultur der Komplexität könnte als erkenntnispraktisches Umsetzen einer neurealistischen Erkenntnistheorie verstanden werden.

Netzwerkökonomie als neue Form der Vernunft

Die Digitalisierung fungiert als Treiber dieser Entwicklung. Peter Wippermann wies bereits früh darauf hin, dass wir uns von der Industriekultur mit ihrem militärisch anmutenden Drill zur Netzwerkökonomie entwickeln. (6) Baecker bezeichnet die Einführung elektronischer und digitaler Medien als Medienumbruch: »Die nächste Gesellschaft ist die Computergesellschaft.« (1)

In der Netzwerkgesellschaft geht es nicht mehr primär um hierarchische Steuerung, sondern um Synchronisation. Diese Synchronisation erfordert eine andere Form der Vernunft – eine, die weniger integrativ ist als vielmehr auf Netzwerklogiken basiert. Hier schließt sich der Kreis zur praktischen Vernunft im Sinne von Nida-Rümelin.

Eine Theorie der praktischen Vernunft ist, wie Nida-Rümelin betont, »kein Rezeptbuch«, aus dem sich einfache Handlungsempfehlungen ableiten lassen. (7) Es ist vielmehr »der Versuch einer begrifflichen Klärung, eine Sichtweise, ein Konzept, eine Interpretation«. (7) Diese nicht-rezepthafte, nicht-hierarchische Auffassung von Vernunft passt zur Netzwerkgesellschaft: Vernunft wird nicht mehr als universelles Ordnungsprinzip von oben verstanden, sondern als Fähigkeit zur Synchronisation und Navigation in komplexen, heterogenen Umgebungen.

Praktische Vernunft in der Netzwerkgesellschaft bedeutet, mit der Gleichzeitigkeit verschiedener Logiken umzugehen, ohne diese in ein geschlossenes System zu zwängen. Sie erfordert strukturelle Rationalität, die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, ohne auf eine einzige übergeordnete Rationalität zurückgreifen zu können.

Ein konstitutiver Diskurs

Der hier beschriebene Diskurs ist konstitutiv für ein verändertes Verständnis von Vernunft. Drei Stränge fügen sich zusammen:

Erstens die Kultur der Komplexität, die Komplexität nicht mehr als Diagnose oder Problem begreift, sondern als Normalzustand und Kulturform der nächsten Gesellschaft anerkennt. Komplexität steht nicht länger als Synonym für Hierarchie, sondern für die Notwendigkeit der Synchronisation heterogener Systemlogiken.

Zweitens der Neue Realismus, der erkenntnistheoretisch die Existenz unendlich fragmentierter Sinnfelder unterstreicht und sich gegen die Vorstellung einer singulären Welt wendet. Er ermöglicht es, Vielfalt anzuerkennen, ohne in Relativismus zu verfallen.

Drittens eine auf Netzwerkökonomie basierende praktische Vernunft, die nicht integrativ von oben nach unten wirkt, sondern als Fähigkeit zur Navigation und Synchronisation in komplexen Umgebungen verstanden wird.

Diese drei Stränge konstituieren gemeinsam einen neuen Vernunftsbegriff, der der Netzwerkgesellschaft angemessen ist. Vernunft bedeutet hier nicht mehr die Reduktion auf einen gemeinsamen Nenner oder die Durchsetzung eines universellen Ordnungsprinzips. Sie bedeutet vielmehr die Fähigkeit, mit der Gleichzeitigkeit und Überlagerung verschiedener Rationalitäten umzugehen – Komplexität als Normalfall anzuerkennen und produktiv mit ihr zu arbeiten.

Dieser Wandel ist mehr als eine philosophische Neupositionierung. Er hat praktische Implikationen für alle Bereiche gesellschaftlichen Handelns: von der Gesundheitsversorgung, in der verschiedene Fachrichtungen synchronisiert werden müssen, bis zur Stadtentwicklung, in der heterogene Interessen koordiniert werden. Überall dort, wo Komplexität nicht mehr wegdiskutiert, sondern als Normalfall akzeptiert wird, entsteht Raum für neue Formen der Vernunft – Formen, die der vernetzten, digitalen Gesellschaft angemessen sind.

Literatur

(1) Baecker, Dirk: Digitalisierung und die nächste Gesellschaft. Verschiedene Vorträge und Publikationen zur Kultur der Komplexität.

(2) Crumley, Carole (1995): »Heterarchy and the Analysis of Complex Societies«. In: Archaeological Papers of the American Anthropological Association, Vol. 6, No. 1.

(3) Graeber, David / Wengrow, David: Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit. Stuttgart: Klett-Cotta.

(4) Gabriel, Markus (2013): Warum es die Welt nicht gibt. Berlin: Ullstein.

(5) Gabriel, Markus: Verschiedene Vorträge und Publikationen zum Neuen Realismus.

(6) Wippermann, Peter: Arbeiten zur Netzwerkökonomie und zum Übergang von der Industriekultur zur Netzwerkgesellschaft.

(7) Nida-Rümelin, Julian (2022): Eine Theorie Praktischer Vernunft. Berlin/Boston: De Gruyter.

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Frank Stratmann

VERFÜGBAR AUF ANFRAGE

Ich bin Frank Stratmann – ein Cultural-Foresight-Analyst und Designer für deliberative Kommunikation.
Bekannt als @betablogr.

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