Neue Erzählung

World Models im Gesundheitsgeschehen

Update vom 20.11.2025

Wie KI-Weltmodelle die Prävention und personalisierte Medizin revolutionieren könnten

Wie KI-Weltmodelle die Prävention und personalisierte Medizin revolutionieren könnten

World Models sind sogenannte Weltmodelle der KI und sie repräsentieren einen fundamentalen Paradigmenwechsel in der KI-Entwicklung. Weg von rein sprachbasierten Large Language Models (LLMs) hin zu Systemen, die eine interne Repräsentation der physischen Welt aufbauen und aus multimodalen Daten lernen (1).

Die Welt ist alles, was der Fall ist.

Ludwig Wittgenstein dachte, alle Philosophie sei nur Sprache, weil er glaubte, dass viele philosophische Probleme durch Missverständnisse der Sprache entstehen. In seinem frühen Werk, dem »Tractatus logico-philosophicus« sah er Sprache als ein logisches System, das die Welt abbildet, und philosophische Fragen als Probleme, die durch eine falsche Nutzung oder ein falsches Verständnis der Sprache verursacht werden. Wenn man den Daten zur Halluzination von LLM Glauben schenkt, werden sich LLM kaum aus ihrem menschlich anmutenden Zustand herausbewegen und sich genau wie wir weiterhin ständig irren. Wir müssen nicht nur lernen, damit umzugehen, sondern darin sogar einen Wert zu erkennen. Das mit der Sprache wird sich also regeln und selbst regulieren.

Etwas anderes ist der Raum, in dem wir uns gemeinsam mit den neuen Aktanten der Mitsprechenden bewegen. Weltmodelle setzen genau hier an. Ihre Aufgabe ist es, physikalische Gesetze, räumliche Beziehungen und kausale Zusammenhänge zu erfassen – und damit echtes Weltverständnis zu entwickeln (2).

Der aktuelle Diskurs wird von einer grundlegenden Debatte geprägt: Yann LeCun, Meta's Chief AI Scientist, argumentiert vehement, dass LLMs eine »Sackgasse« für Artificial General Intelligence (AGI) darstellen (3). Stattdessen propagiert er mit der Joint-Embedding-Predictive-Architecture (JEPA) einen Ansatz, der nicht jedes Detail vorhersagt, sondern abstrakte Zustände der Welt im latenten Raum modelliert (4). Im Gegensatz dazu vertreten Unternehmen wie Google DeepMind mit ihren Genie-Modellen die Position, dass durch ausreichende Skalierung auch sprachbasierte Ansätze Weltverständnis entwickeln können (5).

Revolutionäres Potenzial für das Gesundheitswesen

Für das Gesundheitswesen eröffnen Weltmodelle transformative Möglichkeiten, die weit über heutige KI-Anwendungen hinausgehen. Statt nur Diagnosen zu unterstützen oder Texte zu generieren, könnten sie individuelle Krankheitsverläufe simulieren, bevor therapeutische Interventionen in der Realität umgesetzt werden (6).

Personalisierte Präventionsmedizin durch Simulation

Das eigentliche Potenzial liegt in der präventiven Medizin. Weltmodelle ermöglichen »Was-wäre-wenn«-Szenarien auf individueller Patientenebene: Wie würde sich eine Ernährungsumstellung auf den Diabetes-Verlauf auswirken? Welche Langzeitfolgen hätte eine bestimmte Medikation? Anstatt diese Fragen durch reale Experimente am Patienten zu beantworten. Mit allen Risiken und Verzögerungen können Weltmodelle verschiedene Zukunftsszenarien durchspielen (7).

Vom digitalen Zwilling zum relationalen Weltmodell

Weltmodelle stellen eine fundamentale Herausforderung für unsere Vorstellungskraft dar, weil sie über das Konzept des digitalen Zwillings hinausgehen. Während der digitale Zwilling – bereits seit Jahren in der Medizin diskutiert – eine individuelle, isolierte Simulation eines einzelnen Patienten darstellt, erfassen Weltmodelle etwas radikal Anderes: den Patienten in Beziehung zu vielen anderen Patienten, Umweltfaktoren, sozialen Kontexten und systemischen Wechselwirkungen.

Ein digitaler Zwilling modelliert einen Menschen. Ein medizinisches Weltmodell hingegen konstituiert für jeden individuellen Fall einen relationalen Raum, in dem Wahrscheinlichkeiten über Verträglichkeit, Heilungschancen und Therapieerfolge nicht aus abstrakten Statistiken abgeleitet werden, sondern aus der spezifischen Konstellation dieses Patienten mit relevanten Vergleichsfällen, Medikamenteninteraktionen, genetischen Dispositionen und Umweltbedingungen.

Diese »fallspezifisch konstituierten Räume« sind keine statischen Datenbanken, sondern dynamische Simulationsumgebungen: Jeder Mensch bewegt sich darin nicht nur physikalisch (als Körper mit bestimmten Parametern), sondern auch mental und sozial – als Person mit Überzeugungen, Ängsten, sozialen Bindungen und Verhaltensmustern, die alle therapeutische Outcomes beeinflussen. Das Weltmodell erfasst diese Mehrdimensionalität und simuliert, wie Interventionen nicht nur auf den Körper, sondern auf das verkörperte Leben dieses Menschen wirken würden.

Wichtig dabei ist zu verstehen, das der Mensch nicht in der unbelebten Natur aufgeht. Weltmodelle, die sich aufmachen, den physikalischen Raum zu erobern, könnten naturalistische Annahmen über den Menschen zunächst verstärken. Diese besondere Form des Physikalismus allerdings nervt nicht nur; sie ist schlicht falsch. Ich habe oben den Segen einer fehleranfälligen Kontaktaufnahme mit der Wirklichkeit schon angesprochen. Würde man nondualistisch argumentieren, stünden wir immer schon mitten im Raum, in dem wir uns intelligent bewegen. Nichts anderes tun Sprachmodelle, die sich ab sofort mit uns gemeinsam in den Räumen bewegen. Sprachmodelle sind nicht irgendwo, sondern mit uns hier und jetzt. Weltmodell lassen dann zusätzlich einen Raum im Raum entstehen, mit dem wir medizinisch auf ganz neue Ideen kommen können.

Damit verschieben Weltmodelle die Frage von »Wie behandeln wir diese Krankheit?« zu »Wie wirkt diese Intervention in diesem spezifischen relationalen Gefüge aus Patient, Umwelt, sozialen Beziehungen und koexistierenden Bedingungen?« Die Simulation wird zur Erkundung möglicher Zukünfte in einem Raum, den es nur für diesen Fall gibt – und der sich auflöst, sobald die Entscheidung getroffen ist.

Besonders relevant wird dies bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder metabolischen Störungen. Ein »Diabetes-Weltmodell« könnte in Arbeitsteilung und mithilfe kontinuierlich gesammelter individueller Daten (Blutzucker, Aktivität, Ernährung, Schlaf) individuelle Stoffwechselreaktionen simulieren und optimale Interventionsstrategien identifizieren, bevor diese real erprobt werden (8).

Der Arztbesuch würde dann in etwa so verlaufen, dass die zur Verfügung stehenden Daten in ein Weltmodell eingespeist würden. Dazu würde ein fiktionaler Raum in unserer Wirklichkeit eröffnet. Ein therapeutisches Team aus Patient, Arzt und KI würde sich über die vorhergesagte Situation beugen und nicht nur Medikamentengabe, sondern auch Verhaltensregeln nicht nur empfehlen, sondern in der Zukunft erkennen können. Seien wir ehrlich. Ist es nicht genau das, was die Medizin derzeit bisher nicht leistet?

Hoffnungen auf die Kompensation von Krankheiten oder auf ein Gelingen von Gesundheit laufen derzeit stets als Wette, die zwar immer häufiger gewonnen wird, aber dem Wesen nach eine Wette bleibt.

Ein Rätsel, an dem ich schon länger arbeite, geht wie folgt: Wie vermitteln die Leute, die sich aktuell um das Konzept einer Disease Interception bemühen, dass eine Pille fünf oder zehn Jahre vor einer prognostizierten Krankheit glaubwürdig verordnet werden kann? Der Mensch bleibt unberechenbar und lässt sich meist nur mit Erfahrungen überzeugen. Diese Überzeugungsarbeit erführe mit Weltmodellen ein völlig anderes Niveau.

Räumliche Intelligenz für Körperverständnis

Auch Fei-Fei Li's Konzept der »Spatial Intelligence« – die Fähigkeit von KI, räumliche Beziehungen zu erfassen und darüber zu schlussfolgern – lässt sich direkt auf medizinische Kontexte übertragen (9). Der menschliche Körper ist ein komplexes räumlich-zeitliches System: Organe stehen in anatomischen Beziehungen zueinander, physiologische Prozesse laufen zeitlich koordiniert ab, Krankheiten breiten sich räumlich aus.

Ein medizinisches Weltmodell müsste diese räumlich-zeitliche Dynamik erfassen können – von der Ausbreitung von Infektionen über Tumorwachstum bis zu systemischen Stoffwechselveränderungen. Wie bereits erwähnt würde dies nicht nur präzisere Diagnosen, sondern auch vorausschauende Therapieplanung ermöglichen (10).

DiGA als strategische Plattformen

Eine besonders vielversprechende Entwicklung zeichnet sich in der Integration von Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) als Plattformen und Interfaces für den Zugang zu den Weltmodellen ab (11). Diese Konstellation löst mehrere fundamentale Probleme aktueller KI-Systeme.

Das Grounding-Problem

LLMs leiden unter Halluzinationen – sie generieren plausibel klingende, aber faktisch falsche Aussagen (12). Weltmodelle versprechen »Grounding« durch Verankerung in der physischen und mentalen Realität. DiGA können hier eine Schlüsselrolle spielen. Sie sammeln kontinuierlich strukturierte, reale Patientendaten und validieren damit die Vorhersagen von Weltmodellen (13).

Statt nur zu simulieren, erhalten Weltmodelle durch DiGA fortlaufend Feedback aus der Realität. Ein Diabetes-Weltmodell würde nicht nur theoretische Blutzuckerverläufe generieren, sondern diese kontinuierlich mit echten Messwerten abgleichen und seine Prognosen entsprechend anpassen.

Noch einmal zur Erinnerung. Weltmodelle wären so etwas wie ein Spiegel, der nicht nur unser eigenes Verhalten (vgl. digitaler Zwilling), sondern jede relevante Information aus der Summe von Erfahrungen zeigt. Ob DiGA dann noch die Form erfüllen, die mit ihrer gesetzlich motivierten Einführung im Jahr 2019 etwas zu tun hat? Kaum vorstellbar. DiGA würden sich als Schnittstelle einer eigenen Plattform neu erfinden müssen oder partizipieren an entsprechenden Plattformen für medizinische Weltmodelle.

Domänenspezifische Interfaces für agentische Systeme

DiGA fungieren als natürliche, domänenspezifische Oberflächen für die Orchestrierung verschiedener KI-Agenten. Anstatt über Chat-Interfaces oder Command-Lines mit KI zu interagieren, können Patienten über vertraute Gesundheits-Apps verschiedene KI-Systeme koordinieren – für Monitoring, Beratung, Simulation und Präventionsplanung (15).

Dies etabliert eine kooperative Triade aus KI-Agent, DiGA und Patient, die den Prinzipien der Neuen Versorgungskommunikation folgt: verantwortlich durch besseres Verständnis, genügsam durch simulierte statt übermäßige Eingriffe, befähigend durch Handlungsoptionen-Simulation, kooperativ als Partnerschaft statt Hierarchie unter Berücksichtigung weiterer Aktanten wie das hier besprochenen Weltmodells für Krankheitsbilder und vermutlich ganz neuer Gesundheitsberufe.

Herausforderungen und kritische Perspektiven

Trotz des transformativen Potenzials stehen Weltmodelle vor erheblichen technischen und ethischen Herausforderungen. Temporale Konsistenz bleibt ein ungelöstes Problem: Selbst fortgeschrittene Modelle wie Genie 3 können generierte Welten derzeit nur für Minuten konsistent halten (17). Für medizinische Anwendungen, die Langzeitprognosen über Monate oder Jahre erfordern, ist dies ein kritisches Defizit, das zunächst überwunden werden muss.

Die Rechenkosten sind enorm: Weltmodelle benötigen oft individuelle Instanzen pro Nutzer, was die Skalierung erschwert (18). Im Gesundheitswesen, wo Kosteneffizienz entscheidend ist, könnte dies die Verbreitung bremsen und begrenzen. Das große Thema der Priorisierung kommt fundamental zurück.

Ethische Bedenken umfassen die Reproduktion von Bias aus Trainingsdaten, mangelnde Transparenz der Entscheidungsfindung und potenzielle Diskriminierung bestimmter Patientengruppen (19). Zudem könnte die Komplexität des menschlichen Körpers mit seinen individuellen Variationen die Modellierungsfähigkeiten aktueller KI übersteigen (20).

Ausblick: Wendepunkt für die Gesundheitsversorgung

Der Diskurs um Weltmodelle befindet sich Ende 2025/Anfang 2026 an einem Wendepunkt. Während die technischen Grundlagen gelegt werden, zeichnet sich ab, dass das Gesundheitswesen zu den ersten Anwendungsbereichen gehören könnte, in denen Weltmodelle praktischen Nutzen entfalten (21). Ob Europa mit seiner bisherigen Behäbigkeit hinsichtlich eines Umbaus seiner Gesundheitssysteme der Rest der Welt beim Aufbau medizinischer Weltmodelle (›World Models‹) zuschaut, ist noch nicht geklärt.

Die Konvergenz von Weltmodellen mit bereits etablierten digitalen Gesundheitsinfrastrukturen wie DiGA schafft einzigartige Chancen für Deutschland als Gesundheitsstandort. Statt abzuwarten, bis sich globale Standards etablieren, könnte Deutschland durch die strategische Integration von DiGA und Weltmodellen eine Vorreiterrolle in der personalisierten Präventionsmedizin übernehmen (22).

Gesundheitsversorgung, die nicht mehr nur reaktiv auf Krankheiten reagiert, sondern proaktiv Gesundheit durch personalisierte Simulation und Präventionsplanung erhält, wird zur glaubwürdigen Utopie. Weltmodelle könnten der Schlüssel zu diesem Paradigmenwechsel werden – wenn es gelingt, ihre technischen Herausforderungen zu meistern und ethische Leitplanken zu etablieren.

Literatur

(1) What Are 'World Models'? The Key to the Next Big AI Leap. The Wall Street Journal, 2024.

(2) AI's next act: World models that move beyond language. Axios, 2024.

(3) The Godfather of Meta's AI Thinks the AI Boom Is a Dead End. Business Insider, 2025.

(4) Introducing the V-JEPA 2 world model and new capabilities. Meta AI Blog, 2025.

(5) Genie 3: A new frontier for world models. Google DeepMind, 2025.

(6) World Models: The Future of Interactive AI. Shift Magazine, 2024.

(7) From Text to Action: World Models in Practice. Constitutional Discourse, 2024.

(8) DiGA als World Model Interface. BETABLOGR Formkalkül-Analyse, 2025.

(9) From Words to Worlds: Spatial Intelligence is AI's Next Frontier. Fei-Fei Li Substack, 2024.

(10) Räumliche Intelligenz: Fei-Fei Lis World Labs will KI beibringen, in 3D zu denken. The Decoder, 2025.

(11) BETABLOGR interne Distinktionsanalyse: DiGA als World Model Interface, 2025.

(12) Why language models hallucinate. OpenAI Research, 2024.

(13) Hallucination is Inevitable: An Innate Limitation of Large Language Models. arXiv preprint, 2024.

(15) What Is a World Model? NVIDIA Glossary, 2024.

(17) DeepMind thinks its new Genie 3 world model presents a 'ChatGPT moment' for interactive AI. TechCrunch, 2025.

(18) Deepmind-Chef Hassabis: Weltmodelle sind die Zukunft, aber teuer. The Decoder, 2025.

(19) What You Need to Know About AI Ethics in 2025. LinkedIn Pulse, 2025.

(20) Critiques of World Models. arXiv preprint, 2024.

(21) Diese 7 KI-Entwicklungen bestimmen 2025. Handelsblatt, 2025.

(22) World models get $230 million—and a $100 trillion story. Implicator AI, 2024.

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Frank Stratmann

VERFÜGBAR AUF ANFRAGE

Ich bin Frank Stratmann – ein Cultural-Foresight-Analyst und Designer für deliberative Kommunikation.
Bekannt als @betablogr.

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