Diskursanalyse
Mythos
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wahrheitsabsolutismus
Phase: Mythos
Wahrheitsabsolutismus
Der Anspruch auf absolute Wahrheit ist problematisch und ignoriert die komplexe, intersubjektive Natur von Wissen. Ein pluralistischer Ansatz erkennt an, dass verschiedene Perspektiven gleichwertig sind und fordert kritisches Hinterfragen eigener Überzeugungen. Wahrheitssuche sollte als kollektiver, nie abgeschlossener Prozess verstanden werden, um der Komplexität der Realität gerecht zu werden.
Verfasst von: Frank Stratmann
Diskursanalyse
Update vom 08.07.2025
Der Anspruch auf absolute Wahrheit war schon immer ein problematisches Unterfangen. Die Vorstellung, man könne die eine, die richtige Wahrheit besitzen und verkünden, stößt auf fundamentale epistemologische Grenzen. Diese Kritik lässt sich durch mehrere Perspektiven untermauern, die uns zu einem nuancierten Wahrheitsverständnis führen.
Die Komplexität der Wirklichkeit
Unser Zugang zur Wirklichkeit ist stets perspektivisch bedingt. Yuval Noah Harari entwickelt in »Nexus« ein differenziertes Verständnis von Wahrheit, das die korrekte Darstellung bestimmter Aspekte der Wirklichkeit anerkennt. Er verweist jedoch gleichzeitig auf die unterschiedlichen Perspektiven, die ein unzureichendes Abbild von Informationen über die Wirklichkeit liefern. Jeder Mensch verfügt über ein eigenes Set an Informationen, die eine Wahrheit betreffen. Dies bedeutet keineswegs, dass man zu beliebigen individuellen Wahrheiten kommen kann, wenn diese offenkundig über eine unzureichende oder nicht korrekte Informationslage verfügen.
Die komplexe Beziehung zwischen Information und Wahrheit wird von Harari pointiert zusammengefasst: »Im Widerspruch zum naiven Verständnis ist Information nicht nur das Rohmaterial der Wahrheit und menschliche Informationsnetzwerke nicht nur darauf ausgelegt, die Wahrheit zu finden. Und im Gegensatz zur populistischen Sicht ist Information nicht nur eine Waffe. Um zu überleben und sich zu entwickeln, muss ein menschliches Informationsnetzwerk zwei Dinge gleichzeitig tun: die Wahrheit finden und Ordnung herstellen.«
Wahrheit als intersubjektive Erzählung
Harari betont die Rolle von Erzählungen bei der Konstruktion unserer Wirklichkeit. Über intime, jahrelange interpersonelle Beziehungen hinaus haben wir eine Verbindung zur Geschichte, nicht zur Person. Was wir für wahr halten, ist oft eine intersubjektive Übereinkunft. Intersubjektiv bezieht sich dabei auf die Übereinstimmung zwischen mehreren Subjekten in Bezug auf die Wahrnehmung, Einordnung und Interpretation eines Sachverhalts. »Menschliche Netzwerke werden vermehrt von erfundenen Erzählungen zusammengehalten, vorrangig von Erzählungen über intersubjektive Dinge wie Götter, Geld und Nationen«, schreibt Harari.
Wer die absolute Wahrheit zu besitzen glaubt, übersieht die fundamentale soziale Natur unserer Erkenntnisprozesse. Machtverhältnisse sind niemals objektiv. Sie beginnen subjektiv und hypertrophieren zur größeren Verbindung zwischen Gläubigen in Gestalt einer Erzählung.
Die TED-Talk-Offenbarung: Eine unterhaltsame Paraphrase
Diese Kritik an Wahrheitsansprüchen lässt sich unterhaltsam am Phänomen der TED-Talks illustrieren, wie Douglas Rushkoff es pointiert beschreibt. Stellen wir uns die typische Szene vor: Ein selbstsicherer Redner betritt die kreisrunde, rot ausgeleuchtete Bühne. Mit dem Gestus des Erleuchteten verkündet er dem andächtig lauschenden Publikum eine revolutionäre Erkenntnis, die angeblich alles auf den Kopf stellt. Die vermeintliche Offenbarung besteht in der simplen Umkehrung des bisher Geglaubten. Plötzlich soll Schwarz weiß sein und unten oben.
Das besonders Bemerkenswerte an dieser Inszenierung der Wahrheitsumkehrung ist ihre seltsame Asymmetrie: Links mag zu Rechts werden, aber – wie durch ein logisches Wunder – bleibt Rechts dennoch Rechts. Die vorgebliche Wahrheitsrevolution entpuppt sich als rhetorische Volte, die bestehende Machtverhältnisse unter dem Deckmantel der Erkenntnis fortschreibt.
Ein pluralistischer Wahrheitsbegriff
Dem absolutistischen Wahrheitsanspruch steht ein pluralistischer Wahrheitsbegriff gegenüber. Dieser erkennt an, dass verschiedene Perspektiven und Wahrheiten als gleichberechtigt nebeneinander bestehen können. Dies steht im Kontrast zu universalistischen Positionen, die von einem einheitlichen Prinzip oder einer absoluten Wahrheit ausgehen.
Wir leben in einer gemischten Welt, in der es sowohl Zufälle wie Notwendigkeiten und auch menschliche Absichten als die Wirklichkeit beeinflussende Faktoren gibt. Das menschliche Handeln und seine historischen Konsequenzen finden innerhalb dieser Spannung statt. Erst wenn wir das verstehen, werden wir aufhören, Objekte der eigenen Geschichte zu sein, indem wir der Illusion der Vorherbestimmtheit oder der völligen Unbestimmtheit des Verlaufs menschlicher Angelegenheiten erliegen.
Konsequenzen für unser Wahrheitsverständnis
Die Erkenntnis, dass niemand im Besitz der einen, richtigen Wahrheit sein kann, ist nicht gleichbedeutend mit einem haltlosen Relativismus. Vielmehr führt sie zu einem reflektierten Umgang mit Wahrheitsansprüchen. Sie fordert uns auf, eigene Standpunkte kritisch zu hinterfragen und die Perspektiven anderer ernsthaft zu erwägen.
Dieser Prozess erfordert intellektuelle Redlichkeit und die Bereitschaft, die eigenen Überzeugungen zu revidieren, wenn neue Erkenntnisse dies nahelegen. Es geht nicht darum, auf Wahrheitssuche zu verzichten, sondern diese als kollektives, nie abgeschlossenes Unterfangen zu begreifen.
Harari warnt uns vor den Risiken eines naiven Informationsverständnisses in einer zunehmend von künstlicher Intelligenz geprägten Welt: »Künftige Informationsnetzwerke, vor allem KI-gestützte Netzwerke, werden sich in vielerlei Hinsicht von ihren Vorgängern unterscheiden. Mythologie und Bürokratie sind für große Informationsnetzwerke unerlässlich. Die KI wird die Rolle von Bürokraten und Mythenerzählern übernehmen (wenn wir nicht aufpassen).«
Ergo
Die Behauptung, im Besitz der einen, richtige Wahrheit zu sein, erweist sich bei genauerer Betrachtung als unhaltbar. Sie verkennt die Komplexität der Wirklichkeit, die Perspektivität unserer Erkenntnis und die intersubjektive Natur unserer Wissensproduktion.
Ein reflektiertes Wahrheitsverständnis erkennt die Grenzen individueller Erkenntnis an und begreift Wahrheitssuche als kollektiven, nie abgeschlossenen Prozess.
Statt absolute Wahrheitsansprüche zu erheben, sollten wir einen pluralistischen Wahrheitsbegriff kultivieren, der verschiedene Perspektiven würdigt und in einen fruchtbaren Dialog bringt. Nur so können wir der Komplexität unserer Wirklichkeiten gerecht werden und zu einem tieferen Verständnis gelangen, das nicht in die Falle simplifizierender TED-Talk-Offenbarungen tappt.
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