Moralische Tatsachen
Markus Gabriels „Moralische Tatsachen“ begründet Ethik neu: Moralische Urteile basieren auf objektiven, situativen Tatsachen, die universalisierbar sind. Gegen Relativismus.
Text dazu von: Frank Stratmann
New Moral Health Economy
Update vom 13.11.25
In seinem neuesten Werk »Moralische Tatsachen« unternimmt der Philosoph Markus Gabriel eine fundamentale Neubegründung der Ethik. Gegen den vorherrschenden moralischen Relativismus und Subjektivismus unserer Zeit argumentiert Gabriel, dass moralische Urteile nicht bloß Ausdruck persönlicher Überzeugungen oder kultureller Konventionen sind, sondern auf objektiven Tatsachen beruhen.
Als führender Vertreter des Neuen Realismus entwickelt Gabriel eine originelle Position, die sowohl naturalistischen Reduktionismus als auch metaphysischen Platonismus vermeidet. Im Zentrum steht seine Theorie des »ethischen Situationismus«. Moralische Tatsachen existieren in konkreten Situationen als objektiv bindende Sollensadressen – »du sollst φ jetzt« –, die weder auf naturwissenschaftliche Fakten reduzierbar noch von metaphysischen Positionen vorgeschrieben und deshalb von menschlichen Perspektiven völlig unabhängig sind.
Gabriel zeigt, wie diese situativen moralischen Tatsachen durch praktische Vernunft universalisiert und in soziale sowie rechtliche Strukturen überführt werden können. So wird moralischer Fortschritt möglich als dauerhafte Verankerung verallgemeinerter Sollensansprüche in Institutionen und als historische Ausweitung des moralisch Geschützten.
Das Buch ist zugleich ein Plädoyer für eine »Neue Aufklärung«, jener Selbstaufklärung darüber, dass moralische Tatsachen real geltende Ansprüche sind, die rational artikulierbar und universell institutionalisierbar bleiben – gegen jeden moralischen Nihilismus, der solche Tatsachen leugnet und moralische Sprache zur bloßen Manipulation degradiert.
Mit philosophischer Schärfe und zugänglicher Sprache richtet sich »Moralische Tatsachen« sowohl an Fachphilosophen als auch an alle, die nach tragfähigen Antworten auf die fundamentalen ethischen Fragen unserer Zeit suchen.
Kommentierung
»Moralische Tatsachen« markiert einen wichtigen Schritt in Markus Gabriels philosophischem Projekt. Die sprechen über die ontologische Grundlegung einer realistischen Ethik. Während frühere Werke wie »Warum es die Welt nicht gibt« und »Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten« vor allem als Wert-Appelle und angewandte Ethik verstanden werden konnten, unternimmt Gabriel hier den systematischen Versuch, die Existenz moralischer Tatsachen philosophisch zu begründen.
Die zentrale Innovation liegt in seinem ethischen Situationismus. Moralische Tatsachen sind keine platonischen Entitäten in einem Reich ewiger Werte, sondern konkrete Sollensadressen in spezifischen Situationen. Diese Position ermöglicht es Gabriel, zwischen zwei klassischen Fallgruben zu navigieren – dem naturalistischen Fehlschluss einerseits und einem metaphysisch überladenen Wert-Platonismus andererseits.
Besonders bemerkenswert ist Gabriels Modell des Zusammenspiels von Situativität und Universalisierung: Während moralische Tatsachen primär situativ existieren, macht praktische Vernunft sie vergleichbar, verallgemeinerbar und schließlich institutionalisierbar. So wird moralischer Fortschritt nicht als metaphysische Annäherung an ewige Wahrheiten gedacht, sondern als historischer Prozess der Artikulation, Reflexion und sozialen Verankerung von Sollensansprüchen.
Die Stärke des Buches liegt in seiner philosophischen Ambition: Gabriel liefert nicht nur eine weitere angewandte Ethik, sondern eine metaethische Grundlegung, die den Anspruch erhebt, moralischen Realismus auf neue Weise zu verteidigen. Gleichzeitig positioniert er seine Ethik als Teil einer »Neuen Aufklärung« – als Selbstaufklärung über die Realität moralischer Verpflichtungen gegen relativistische und nihilistische Tendenzen.
Kritisch zu prüfen bleibt noch, ob Gabriels Begründung der Objektivität moralischer Tatsachen tatsächlich überzeugt. Wie genau sind situative Sollensadressen »objektiv bindend«, wenn sie weder naturalistisch noch metaphysisch fundiert sind? Welche Rolle spielt die Intersubjektivität? Und wie verhält sich Gabriels Position zu klassischen Einwänden gegen moralischen Realismus, etwa dem »argument from queerness (Mackie)« oder der explanatorischen Irrelevanz moralischer Tatsachen?
Das Werk ist gut positioniert in der aktuellen Debatte und profitiert von positiven Rezensionen und medialer Präsenz. Die zentrale Herausforderung ist die: Kann Gabriel nicht nur zeigen, dass moralische Tatsachen existieren sollten, sondern dass sie tatsächlich existieren – und zwar in einem Sinne, der robust genug ist, um den Skeptiker zu überzeugen? Ich lese noch. Will sagen, ich studiere das Buch.
Für die Rezeption wird entscheidend sein, wie die Fachwelt auf Gabriels Versuch reagiert, Situationismus, Universalismus und historischen Fortschritt in einem kohärenten Modell zu verbinden. »Moralische Tatsachen« ist zweifellos ein wichtiger Beitrag zur zeitgenössischen Metaethik – ob es ein durchschlagender ist, wird die weitere philosophische Diskussion zeigen müssen.
Moralische Tatsachen
978-3-406-83747-0
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