Survival Of The Richest
Eine kritische Analyse der sozialen Ungleichheit und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft im digitalen Zeitalter.
Text dazu von: Neuer Realismus
survival-of-the-richest
Update vom 09.07.25
Rushkoff deckt auf, wie die Technologie-Oligarchen vom Silicon Valley sich luxuriöse Bunker bauen, private Inseln kaufen und sogar Raumfahrtprogramme finanzieren – alles in dem Glauben, dass sie mit genügend Geld und Technologie der Apokalypse entkommen können, die sie selbst als »The Event« bezeichnen und die den Rest der Menschheit verschlingen wird.
Was sie als »Transformation« verklären, entpuppt sich als nihilistisches »Mindset«, das auf einer uralten elitären Denkweise basiert
Der Glaube, dass die Auserwählten das »Larvenstadium der Spezies« hinter sich lassen und eines Tages zur nächsten Stufe der menschlichen Evolution aufgestiegen sein werden.
Eine aufrüttelnde Analyse darüber, wie der Kapitalismus in seiner derzeitigen Form eine wachsende Kluft zwischen der Tech-Elite und dem Rest der Menschheit schafft. Dieses Buch ist ein eindringliches Plädoyer für Gemeinschaft, Zusammenarbeit und ein neues Wirtschaftsdenken, das auf gegenseitiger Fürsorge statt auf Abkopplung basiert.
In ihrer Weltanschauung, in der die technologischen Eliten scheinbar alle Fäden in der Hand halten und sich auf eine apokalyptische Zukunft vorbereiten, die sie vielleicht sogar mitgestalten, dringt Douglas Rushkoff mit »Survival of the Reachest« in die Abgründe des transhumanistischen Traums vor. Vergessen wir die Science-Fiction-Dystopien – Rushkoff zeigt uns die erschreckende Realität, in der Milliardäre nicht nur überleben, sondern ein Paralleluniversum der Überpriviligierten aufbauen wollen, losgelöst von den Konsequenzen ihrer eigenen Schöpfungen.
Mit messerscharfem Intellekt und unerbittlicher Recherche enthüllt Rushkoff, wie sich die Tech-Tycoons mit ihren »Exitstrategien«Vermeide von der restlichen Menschheit abkoppeln. Von unterirdischen Bunkern und autonomer Landwirtschaft bis zu digitaler Unsterblichkeit und der Beherrschung der Biologie – hier wird die ultimative Form der Absolution gesucht: die Flucht vor einer Welt, die sie selbst auf den Plan gerufen haben.
Doch ist es wirklich Überleben, wenn man sich von allem Menschsein lossagt? Oder ist es der ultimative Verrat an einer Zukunft, die wir nur gemeinsam gestalten können?
»Survival of the Reachest« ist ein aufrüttelnder Weckruf, der uns zwingt, über die wahren Kosten des technologischen Fortschritts und die Verantwortung derjenigen nachzudenken, die ihn vorantreiben. Ein Buch, das man nicht ignorieren kann, wenn man verstehen will, wohin unsere Gesellschaft tatsächlich steuert.
Literaturnotizen
Die Denkweise der Tech-Milliardäre (»The Mindset«)
Das Buch befasst sich mit der psychologischen und ideologischen Grundlage der Superreichen, die glauben, technologische Lösungen für alle Probleme der Menschheit, einschließlich eines möglichen Kollapses, finden zu können, ohne ihre eigene Rolle bei der Entstehung dieser Probleme zu hinterfragen. Der Übersetzer Stephan Gebauer behält den im deutschen unerträglich leeren Begriff ›Mindset‹ bewusst bei, der in seiner Stanzhaftigkeit genau das widerspiegelt, was man den infantilen Tech-Milliardären unterstellen darf: keine Haltung im humanistischen Sinne zu haben. »Gewinnen« bedeutet unter ihnen, genug Geld zu verdienen, um sich von dem Schaden abzuschotten, den sie selbst verursachen.
Es ist, als wollten sie ein Auto bauen, das schnell genug fährt, um seinen eigenen Abgasen zu entkommen. (Rushkoff, 2025)
Exitstrategien und das Prepping der Eliten
Hierin würden die konkreten Fluchtpläne der Milliardäre beleuchtet, wie der Bau von Luxusbunkern, die Schaffung autonomer Rückzugsorte und andere Vorbereitungen für ein hypothetisches »Event« (gesellschaftlichen Zusammenbruch).
Speiseaufzug
Thomas Jefferson soll für seine Bediensteten einen Speiseaufzug gebaut haben, damit diese mit dem Essen nicht die beschwerliche Treppe nehmen mussten. Aus dieser Anekdote leitet Douglas Rushkoff den Speiseaufzugeffekt ab. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Automatisierungsunternehmer rücken uns auf die Pelle. Berichtet wird von der Möglichkeit, ein maßgeschneidertes T-Shirt erstellen zu lassen. Sogar das Schild trägt den Namen des neuen Besitzers. Amazon testet offenbar die Bereitschaft, ob Kunden diesen unmittelbaren Draht zum Produkt akzeptieren. Was leistet es? So wie im Hause Jefferson der Aufzug die geknechteten Sklaven von der Abendgesellschaft fernhielt, verschleiert Amazon für die maßgeschneiderten T-Shirts, die der Kunde mit seinem Smartphone selbst vermisst, die unsäglichen Missstände, die nach wie vor bei der Produktion von Baumwolle erkannt werden könnten, wenn man sie denn sehen würde.
Lenkung der Massen
Die im Kapitel 8 adressierten Informationen über Edward Louis Bernays haben mich schon 2017 beschäftigt, als ich begann, mich aktiv mit dem Paradigmenwechsel von Gesundheitskommunikation zu beschäftigen. Eine absatzorientierte Kommunikation wollte ich für Krankenhäuser einfach nicht erkennen. Da steht zu viel auf dem Spiel. Parallel hatte sich die Entwicklung rund um ein Engagement von Gesundheitseinrichtungen in sozialen Medien etabliert, auch wenn die Häuser sich inhaltlich schwertaten und meist selbst referenzierte Einbahnstraßen-Kommunikation ausprobierten. Echte Gespräche, die an den Mythos der ersten Jahre der sozialen Netzwerke erinnern würden, führte niemand ernsthaft. Die Disziplin der Krisenkommunikation nahm zu viel Raum ein. Besonders Krankenhäuser spezialisierten ihre Teams auf den Umgang mit schlechter Presse. Aufgrund der Mangelverwaltung, die sich auch die Kommunikationsakteure als selbsterfüllende Prophezeiung gaben, fühlte man sich gut aufgestellt, als klar war, dass die nächste Dimension von schlechter Presse ein fäkaler Mediensturm (»Shitstorm«) sein könnte. Den meisten war zu diesem Zeitpunkt vor der Pandemie und seiner großen Gereiztheit nicht klar, dass die Konzepte nichts gemein haben.
Deshalb bin ich froh, damals genau hingehört zu haben und daran erinnert worden zu sein, dass Bernays die PR aus der Kriegsberichterstattung und insbesondere aus der Propaganda abgeleitet hatte. Darauf zielt auch Douglas Rushkoff im Jahr 2025.
Bernays wurde 1891 in Wien als Neffe Sigmund Freuds geboren. Seine jüdischen Eltern emigrierten ein Jahr später nach New York, wo er aufwuchs und zunächst Agrarwissenschaften studierte, bevor er als Journalist arbeitete. Ab dem Jahr 1917 unterstützte er die US-Regierung bei der Schaffung von Zustimmung zum Kriegseintritt im Ersten Weltkrieg mit dem Slogan …
»Make the world safe for democracy«.
Zudem war Bernays Teil des Committee on Public Information bei den Friedensverhandlungen von Versailles 1919. Nach seiner Rückkehr nach New York beschäftigte er sich mit den Lehren seines Onkels Freud und wandte dessen psychoanalytische Erkenntnisse auf die Massenbeeinflussung an. Er entwickelte ein revolutionäres Konzept für die Überproduktionskrise der amerikanischen Industrie. Wenn die Industrie nicht genügend Kunden für ihre Produkte hat, dann muss sie diese Kunden eben erfinden. Bernays trug maßgeblich zur Etablierung von Public Relations als eigenständiges Fachgebiet bei. Sein Konzept des »Engineering of Consent« (1947) wurde als gemeinwohlorientierter Konsens interpretiert und prägte den frühen PR-Fachdiskurs.
Diese Grundgedanken von Bernays greift auch Rushkoff wieder auf. Die Manipulation der Menschen durch Kommunikation überträgt sich seit der Transformation soziale Netzwerke von einem Ort der vernetzten Begegnung zu Plattformen des Überwachungskapitalismus auf die Ziele der Tech-Elite, Narrative und Manipulationstechniken einzusetzen, um die öffentliche Meinung zu lenken und Macht auszuüben – eine moderne Fortsetzung der von Bernays entwickelten Methoden zur Beeinflussung der Massen.
Wahrheitsabsolutismus
Das vielleicht schlimmste Verbrechen des Mindset gegen das menschliche Projekt besteht darin, dass diese totalisierenden Lösungen den Mythos aufrechterhalten, nur eine technokratische Elite könne unsere Probleme lösen.
Douglas Rushkoff kritisiert in "Survival of the Richest" scharf den Wahrheitsabsolutismus der Tech-Elite. Dieser äußert sich im bereits adressierten Mindset - einer technokratischen Weltsicht, die glaubt, mit genügend Technologie und Geld alle Probleme lösen zu können, einschließlich des gesellschaftlichen Zusammenbruchs, den sie selbst mitverursachen.
Diese Tech-Milliardäre folgen laut Rushkoff einem gefährlichen Wahrheitsabsolutismus, der auf einem unbeirrbaren Glauben an quantifizierbare Daten und technologische Lösungen basiert. Sie halten sich für die Auserwählten, die das »Larvenstadium der Spezies« hinter sich lassen können.
Rushkoff zeigt, wie dieser Absolutismus zu einer nihilistischen Denkweise führt, in der die Tech-Elite glaubt, die »Gesetze der Physik, Ökonomie und Moral brechen« zu können. Statt gemeinsam gesellschaftliche Probleme zu lösen, verfolgen sie Exitstrategien - von Luxusbunkern über private Inseln bis hin zur digitalen Unsterblichkeit.
Als Gegenentwurf plädiert Rushkoff für eine Ethik der Verbundenheit, Gemeinschaft und gegenseitigen Fürsorge. Er fordert einen fundamentalen Paradigmenwechsel hin zu Lösungen, die nicht auf endlosem Wachstum und technologischer Flucht basieren, sondern auf Zusammenarbeit und gemeinschaftlicher Verantwortung.
Funktionslust
Die Funktionslust beschreibt ein Phänomen, das im Kontext der digitalen Transformation besondere Relevanz entwickelt hat. Der Begriff geht zurück auf Karl Bühlers Theorie der Sprache und bezeichnet ursprünglich das Vergnügen am bloßen Tätigsein, unabhängig vom Zweck oder Ergebnis. In Rushkoffs Kritik an der Tech-Elite findet dieser Begriff eine neue Dimension. Er beleuchtet die ambivalente Beziehung zwischen Mensch und Technologie, die sich in einer beunruhigenden Form der Anpassung manifestiert.
Wir passen uns der Belohnungsstruktur der technologischen Umgebung an, in der wir leben, und wir machen immer mehr Zugeständnisse an das Betriebssystem, das uns unsere Technologien – und die dahinter stehenden Milliardäre – aufzwingen.
Bei näherer Betrachtung des Zitats wird deutlich, dass Rushkoff eine fundamentale Verschiebung der Machtverhältnisse identifiziert. Die »Belohnungsstruktur der technologischen Umgebung« ist keineswegs neutral oder natürlich entstanden. Sie wurde bewusst durch die Architekten unserer digitalen Infrastruktur gestaltet, mit dem Ziel, bestimmte Verhaltensweisen zu fördern und andere zu hemmen. Die Funktionslust wird hier zum trojanischen Pferd. Wir erleben Freude am Umgang mit Technologie, während wir gleichzeitig in ein System eingebunden werden, das unsere Autonomie untergräbt.
Besonders bemerkenswert ist die Parallele zum klassischen Verständnis der Funktionslust als kindliches Entwicklungsprinzip. Wie Kinder durch wiederholtes Tun Fertigkeiten entwickeln, so werden wir durch die scheinbar spielerischen Mechanismen digitaler Plattformen trainiert. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, dass diese Mechanismen nicht unser Wachstum fördern, sondern primär den Interessen der Tech-Milliardäre dienen.
Die Freude am Klicken, Scrollen und Interagieren wird instrumentalisiert, um Verhaltensmuster zu etablieren, die letztlich der Akkumulation von Daten, Aufmerksamkeit und Kapital dienen.
Das liegt dann schon gefährlich nahe an einer instrumentellen Vernunft, die in der Geschichte der Menschheit selten etwas Gutes bereithält.
Die instrumentelle Vernunft ist ein zentrales Konzept der Kritischen Theorie, besonders entwickelt von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Es beschreibt eine Form der Rationalität, die sich ausschließlich an der Effizienz von Mitteln zur Erreichung vorgegebener Ziele orientiert, ohne die Ziele selbst kritisch zu hinterfragen.
Im Kontext von Rushkoffs Kritik an der Tech-Elite bezieht sich der Begriff der Funktionalität also auf eine Denkweise, die Menschen und Gesellschaft nur als Ressourcen oder Mittel zum Zweck betrachtet. Diese Vernunft reduziert alles auf seinen instrumentellen Wert - was nützlich ist, um bestimmte (oft ökonomische) Ziele zu erreichen.
Die Gefahr dieser Denkweise liegt darin, dass sie:
moralische und ethische Fragen ausklammert,
Menschen auf ihre Funktionalität reduziert,
zur Entmenschlichung und Technokratisierung führt.
Die Freude am Klicken und Interagieren wird instrumentalisiert, um Verhaltensmuster zu etablieren, die letztlich der Daten- und Kapitalakkumulation dienen. Diese Entwicklung steht in der problematischen Tradition einer instrumentellen Vernunft, die historisch selten positive Folgen hatte.
Die »Zugeständnisse an das Betriebssystem« manifestieren sich in subtilen, aber tiefgreifenden Veränderungen unseres Denkens und Handelns. Wir internalisieren die Logik der Plattformen, passen unsere kognitiven Prozesse an ihre Funktionsweise an und optimieren unser Verhalten für ihre Metriken. Dies geschieht nicht durch offensichtlichen Zwang, sondern durch die Ausnutzung neurobiologischer Belohnungssysteme. Die Dopaminausschüttung bei jedem Like, jeder Benachrichtigung und jedem Abschluss einer digitalen Aufgabe schafft Abhängigkeiten, die uns an das System binden.
In dieser Analyse offenbart sich die perverse Transformation der Funktionslust von einem emanzipatorischen Entwicklungsprinzip zu einem Instrument der Entmündigung. Was ursprünglich der Selbstverwirklichung diente, wird zum Vehikel der Fremdbestimmung. Die Tech-Elite hat verstanden, dass die effektivste Form der Kontrolle nicht durch offensichtlichen Zwang, sondern durch die Steuerung intrinsischer Motivation erreicht wird. Sie haben die Funktionslust kommodifiziert und in den Dienst ihrer eigenen Interessen gestellt.
Rushkoff macht deutlich, dass hinter dieser Entwicklung kein anonymer Prozess steht, sondern konkrete Akteure mit spezifischen Interessen. Die »dahinter stehenden Milliardäre« haben ein System geschaffen, das ihnen ermöglicht, Macht auszuüben, ohne als Machtausübende in Erscheinung zu treten. Die Technologie erscheint als neutral, während sie tatsächlich von ökonomischen und ideologischen Interessen durchdrungen ist.
Die Herausforderung besteht nun darin, die Funktionslust zu reklamieren und sie von ihren technokratischen Verzerrungen zu befreien. Dies erfordert ein kritisches Bewusstsein für die Mechanismen der technologischen Manipulation sowie die Entwicklung alternativer Systeme, die nicht auf Extraktion und Kontrolle, sondern auf Autonomie und Gemeinwohl ausgerichtet sind. Nur so kann die Funktionslust wieder zu dem werden, was sie sein sollte. Ein Prinzip der Selbstermächtigung und des kollektiven Wachstums.
Philanthropie
Die Philanthropie der Tech-Elite manifestiert sich als Paradoxon der modernen Digitalökonomie. Während Technologiemilliardäre als Wohltäter auftreten, entfaltet sich dahinter ein subtiles Machtgefüge, das gesellschaftliche Probleme privatisiert und demokratische Entscheidungsprozesse unterläuft. Rushkoff entlarvt diese scheinbar großzügige Geste als Teil einer Strategie, die die soziale Verantwortung von staatlichen Institutionen auf private Akteure überträgt.
Die Philanthropie der Milliardäre ist die Kehrseite ihrer anarchokapitalistischen Überzeugungen. Solange wir alle anderen, insbesondere die Regierung, aus unseren Angelegenheiten heraushalten, können wir uns selbst um die Probleme kümmern, die wir für wichtig halten.
Diese philanthro-kapitalistische Haltung reflektiert eine fundamentale Verschiebung im Verständnis gesellschaftlicher Verantwortung. Tech-Milliardäre stilisieren sich zu selbst ernannten Problemlösern, die glauben, komplexe soziale, ökologische und politische Herausforderungen mit technologischen Lösungen und privaten Mitteln bewältigen zu können. Dieses Denkmuster ignoriert bewusst die systemischen Ursachen vieler gesellschaftlicher Probleme, an deren Entstehung die Tech-Elite oft selbst beteiligt ist.
Rushkoff illustriert, wie diese Art der Philanthropie letztlich zu einer weiteren Konzentration von Macht führt. Die Entscheidung darüber, welche gesellschaftlichen Probleme Aufmerksamkeit und Ressourcen verdienen, liegt nicht mehr in demokratischen Prozessen, sondern im Ermessen einzelner vermögender Individuen. Diese »wohlwollende Diktatur« untergräbt die Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft.
Besonders problematisch erscheint die Tendenz der Tech-Philanthropen, Lösungen zu favorisieren, die ihre eigenen Geschäftsmodelle und Weltanschauungen stärken. Bildungsinitiativen fördern digitale Kompetenz durch Produkte der eigenen Unternehmen, Gesundheitsprogramme sammeln wertvolle Daten, und Umweltschutzmaßnahmen priorisieren technologische »Moonshots« gegenüber strukturellen Veränderungen. Diese selbstreferenzielle Philanthropie verstärkt bestehende Machtverhältnisse, anstatt sie zu transformieren.
Die philanthropischen Aktivitäten dienen zudem als moralisches Alibi für die problematischen Aspekte des Techkapitalismus. Sie erlauben es den Milliardären, sich als Wohltäter zu inszenieren, während sie gleichzeitig von Steuervermeidung, prekären Arbeitsbedingungen und Datenextraktivismus profitieren. Diese »philanthropische Waschung« verschleiert die tieferen systemischen Probleme, die durch ihre Geschäftsmodelle entstehen und aufrechterhalten werden.
In Rushkoffs Analyse wird deutlich, dass wahre Philanthropie nicht in der großzügigen Verteilung von Überschüssen besteht, sondern in der grundlegenden Neugestaltung der Systeme, die extreme Vermögensungleichheit erzeugen. Er fordert einen Paradigmenwechsel weg von der heroischen Einzelperson hin zu kollektiven, demokratischen Lösungsansätzen. Nur durch die Wiederherstellung gemeinsamer Verantwortung und die Stärkung öffentlicher Institutionen kann die Gesellschaft die existenziellen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen.
Akzelerationismus
Beim Lesen von Kapitel 11 fühlte ich mich erinnert an die beiden im Merve Verlag erschienenen Bände »Akzeleration 1 / 2«. Die beiden Fibeln versammeln zentrale Beiträge der sogenannten »Beschleunigungsphilosophen« – darunter auch Texte, die sich explizit mit den Ursprüngen und Implikationen dieser Denkweise auseinandersetzen. Im Vordergrund steht die Analyse, wie kapitalistische Dynamiken, technologische Innovationen und gesellschaftliche Transformationen ineinandergreifen und sich gegenseitig antreiben. Die Autoren diskutieren, inwiefern eine bewusste Steigerung (oder Übersteigerung) dieser Prozesse eine Art „kreative Zerstörung“ bewirken und so den Weg zu neuen, posthumanen Ordnungen ebnen könnte.
Sowohl der philosophische Akzelerationismus (wie in Akzeleration diskutiert) als auch die von Rushkoff beschriebene Mentalität der Tech-Elite teilen die Vorstellung, dass gesellschaftlicher und technologischer Wandel durch radikale Beschleunigung vorangetrieben werden kann – und dass dies zwangsläufig auf eine Art »Event« hinausläuft, das die bestehenden Verhältnisse sprengt. Beide Diskurse setzen auf die transformative Kraft der Technologie, die nicht nur bestehende Strukturen auflöst, sondern auch neue Möglichkeiten eröffnet, die weit über das Menschliche hinausgehen (Posthumanismus, technologische Singularität)
Zentrales Motiv beider Perspektiven ist dabei die „Deterritorialisierung“: Bestehende Strukturen und Identitäten werden durch technologische und ökonomische Beschleunigung aufgelöst, was zu einer radikalen Offenheit für neue Formen von Subjektivität und Gesellschaft führen kann. Dabei wird auch die Möglichkeit diskutiert, dass diese Dynamik außer Kontrolle gerät und unvorhersehbar mündet – ein Moment der Diskontinuität, der mit Konzepten wie der „technologischen Singularität“ oder posthumanistischen Utopien verwandt ist.
Darum dreht sich das Buch von Douglas Rushkoff auch im Untertitel. Die in Akzeleration 1 und 2 versammelten Beiträge reflektieren die Ambivalenzen und Risiken einer solchen Beschleunigung und diskutieren auch emanzipatorische Potenziale, während der von Rushkoff beschriebene Techno-Akzelerationismus der Superreichen primär auf individuelle Rettung und Exklusion abzielt. Die technologische Übertreibung dient hier nicht der gesellschaftlichen Transformation, sondern der Flucht vor den Folgen der eigenen Handlungen.
Beide Diskurse – der philosophische Akzelerationismus und die Beschleunigungsphantasien der Tech-Elite – kreisen um die Idee, dass durch radikale Beschleunigung ein grundlegender Bruch („Event“) herbeigeführt werden kann.
Sekte oder Verschwörung als Sucht
Die Verschwörungssucht als kollektives Phänomen zeigt sich als eigenartige Manifestation zeitgenössischer gesellschaftlicher Pathologien. Anders als traditionelle Sekten mit hierarchischen Strukturen und klar definierten Führungsfiguren oder klassische soziale Bewegungen mit artikulierten Zielen, erscheinen moderne Verschwörungszirkel als dezentrale, selbstorganisierende Systeme mit suchtanalogen Charakteristika. Diese Perspektive erlaubt einen differenzierteren Blick auf Phänomene wie QAnon oder extreme politische Gruppierungen, die sich durch eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit und Persistenz auszeichnen.
Die Analogie zur Drogenabhängigkeit ist hierbei besonders erhellend. Rushkoffs Analyse wird durch die Beobachtung ergänzt, dass Verschwörungsnarrative als psychologische Stimulanzien funktionieren, die kurzzeitige kognitive und emotionale Belohnungen bieten. Das wiederholte Konsumieren dieser Narrative erzeugt einen zyklischen Prozess von Spannung, Erlösung und erneuter Spannung. Dieser Mechanismus entspricht den neurobiologischen Grundlagen von Suchtverhalten.
Bemerkenswert ist die klassenübergreifende Anfälligkeit für diese Form kollektiver Kognitionsverzerrung. Die traditionelle Annahme, Bildung schütze vor irrationalen Überzeugungen, erweist sich als trügerisch. Wie bei substanzgebundenen Abhängigkeiten können Menschen unabhängig von ihrem Bildungsniveau, sozialen Status oder intellektuellen Fähigkeiten in den Sog verschwörungstheoretischer Narrative geraten. Der Chefarzt oder die Universitätsprofessorin ist nicht prinzipiell immuner gegen diese Dynamiken als andere gesellschaftliche Gruppen.
Die Selbsterhaltungsmechanismen dieser Suchtkollektive sind besonders faszinierend. Sie operieren nach autopoietischen Prinzipien, indem sie kontinuierlich neue Interpretationen, Vorhersagen und Erklärungsmuster generieren. Wenn eine Prophezeiung nicht eintritt oder ein Narrativ an Glaubwürdigkeit verliert, erfolgt keine kritische Selbstreflexion, sondern eine narrative Anpassung. Diese permanente Rekonfiguration der gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktion sichert das Überleben des Kollektivs trotz externer Widerlegungen.
Der Vergleich mit der »Crackhöhle« illustriert nicht nur die psychologische Abhängigkeitsdynamik, sondern auch den sozialen Charakter des Phänomens. Die Gruppe fungiert als Verstärker individueller Überzeugungen und schafft einen geschlossenen Resonanzraum, in dem abweichende Perspektiven systematisch ausgeschlossen werden. Die gegenseitige Bestätigung wird zum sozialen Ritual, das die Gruppenkohäsion stärkt und gleichzeitig die Abhängigkeit des Einzelnen von der kollektiven Realitätsdeutung vertieft.
Die von Rushkoff beschriebene Tech-Elite und die Anhänger verschwörungstheoretischer Zirkel teilen trotz ihrer unterschiedlichen sozialen Positionen eine fundamentale Überzeugung. Sie glauben an ein bevorstehendes »Event« – einen Wendepunkt, der die bestehende Ordnung radikal transformieren wird. Während die Superreichen dieses Ereignis durch technologische Beschleunigung verschwörend erwarten oder gar herbeiführen wollen, sehnen klassische Verschwörungsanhänger den »großen Tag der Abrechnung« herbei, der ihre marginalisierte Position umkehren wird.
Diese eschatologische Dimension verleiht der Verschwörungssucht eine quasi-religiöse Qualität. Doch anders als traditionelle Religionen mit ihren elaborierten theologischen Systemen und kulturellen Einbettungen handelt es sich hier um einen »Fast-Food-Glauben«. Er bietet unmittelbare Befriedigung existenzieller Bedürfnisse nach Sinn, Zugehörigkeit und Selbstwert, ohne die langsame Kultivierung spiritueller Praktiken oder ethischer Reflexion zu erfordern.
Die therapeutischen Implikationen dieser Analyse sind bedeutsam. Wenn Verschwörungsglauben als Suchtphänomen verstanden wird, greifen herkömmliche Interventionen durch Faktenkorrektur oder rationale Argumentation zu kurz. Stattdessen wären Ansätze aus der Suchttherapie zu erwägen, die auf die Stärkung von Selbstwirksamkeit, die Entwicklung alternativer Befriedigungsquellen und die graduelle Reintegration in pluralistische Diskursgemeinschaften abzielen.
Gesellschaftspolitisch verweist diese Perspektive auf tieferliegende strukturelle Probleme. Die Ausbreitung verschwörungstheoretischer Suchtkollektive kann als Symptom gesellschaftlicher Desintegration und Sinnkrisen interpretiert werden. Wenn legitime Institutionen das Vertrauen verlieren und traditionelle Sinnquellen versiegen, entstehen Vulnerabilitäten für kompensatorische Weltdeutungen. Die Bekämpfung der »Verschwörungssucht« erfordert daher mehr als Faktenchecks und Medienbildung. Sie verlangt die Revitalisierung demokratischer Teilhabe, die Wiederherstellung sozialer Kohäsion und die Entwicklung inklusiver Zukunftsnarrative.
… später mehr
Relevante Quellen und weitere Informationen
Douglas Rushkoff auf Suhrkamp Verlag: Survival of the Richest. Buch von Douglas Rushkoff (Suhrkamp Verlag)
Beitrag bei Titel, These, Temperamente (ARD) aus dem Februar 2025.
Rezension auf Spektrum der Wissenschaft: Buchkritik zu »Survival of the Richest« – Spektrum der Wissenschaft
Douglas Rushkoffs offizielle Webseite zum Buch: Survival of the Richest: Escape Fantasies of the Tech Billionaires - Rushkoff
Survival Of The Richest
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