Systemische Ursache

Gesundheitskompetenz (Health Literacy)

Update from 11.10.2025

Eine kritische Analyse der Gesundheitskompetenz in Deutschland und deren soziale Ungleichheiten

Eine kritische Analyse der Gesundheitskompetenz in Deutschland und deren soziale Ungleichheiten

Gesundheitskompetenz als globale Herausforderung: Jenseits nationaler Grenzen

Die in der HLS-GER-3-Studie dokumentierten Befunde zur Gesundheitskompetenz in Deutschland sind keineswegs ein isoliertes nationales Phänomen. Vielmehr spiegeln sie eine globale Entwicklung wider, die in vergleichbarer Form in nahezu allen hoch entwickelten Gesundheitssystemen zu beobachten ist. Internationale Vergleichsstudien zeigen, dass die Herausforderungen – von der Navigation durch komplexe Versorgungsstrukturen über die Bewertung digitaler Gesundheitsinformationen bis hin zur Vorbereitung auf Gesundheitskrisen – länderübergreifende Muster aufweisen. Die strukturellen Ähnlichkeiten in den Befunden deuten darauf hin, dass die Ursachen tiefer liegen als in spezifischen nationalen Politiken oder Gesundheitssystemen: Sie wurzeln in den grundlegenden Spannungen zwischen der zunehmenden Komplexität moderner Gesundheitsversorgung und den Fähigkeiten der Menschen, sich in dieser Komplexität zu orientieren.

Health Equity

Die Diskussion über Gesundheitskompetenz ist untrennbar mit dem Konzept der ›Health Equity‹ – der gesundheitlichen Chancengleichheit – verbunden. Gesundheitskompetenz ist keine bloße individuelle Fähigkeit, sondern ein sozialer Determinant von Gesundheit. Wer über eine geringe Gesundheitskompetenz verfügt, ist systematisch benachteiligt beim Zugang zu Versorgung, bei der Qualität der Behandlung und bei den resultierenden Gesundheitsoutcomes. Die in HLS-GER 3 dokumentierte Zunahme sozialer Ungleichheiten bei der Gesundheitskompetenz verschärft bestehende gesundheitliche Disparitäten und perpetuiert einen Kreislauf der Benachteiligung. Health Equity kann daher nicht erreicht werden, ohne dass die systemischen und sozialen Barrieren adressiert werden, die eine geringe Gesundheitskompetenz erst hervorbringen.

Digital Literacy

In diesem Diskurs ist es essenziell, Gesundheitskompetenz nicht isoliert zu betrachten, sondern sie in einen umfassenderen Rahmen einzubetten. Zwei Dimensionen sind dabei von besonderer Bedeutung: die ›Digital Literacy‹ und – grundlegender noch – die ›Human Literacy‹. Digital Literacy, d. h. die Fähigkeit, digitale Werkzeuge kompetent und kritisch zu nutzen, ist im Zeitalter der Digitalisierung des Gesundheitswesens eine unverzichtbare Voraussetzung geworden. Sie bildet die technologische Schnittstelle zur Gesundheitskompetenz und ist, wie die HLS-GER-3-Daten zeigen, einem raschen Wandel unterworfen.

Human Literacy

Doch über der Digital Literacy – und über der Gesundheitskompetenz selbst – steht ein noch fundamentaleres Konzept: die Human Literacy. Hierunter verstehen wir die grundlegende Fähigkeit des Menschen, sich selbst, seine Bedürfnisse, seine Verletzlichkeiten und seine Beziehungen zu anderen zu verstehen und in diesem Verständnis handlungsfähig zu bleiben. Human Literacy umfasst emotionale Intelligenz, kritisches Denken, Empathie, Selbstreflexion und die Fähigkeit zur Kommunikation und Kooperation. Sie ist die Basis, auf der alle anderen ›Literacies‹ aufbauen. Ohne ein grundlegendes Verständnis für die eigene Menschlichkeit und die Komplexität menschlichen Lebens bleiben sowohl Gesundheits- als auch Digital Literacy fragmentierte, technokratische Fertigkeiten.

Wir erachten die Human Literacy als primär wichtig. Sie stellt den normativen und humanistischen Rahmen dar, in dem alle weiteren Kompetenzen ihre Bedeutung erlangen. Eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder befähigt, als reflektierte, empathische und kritisch denkende Menschen zu agieren, schafft die Voraussetzungen für eine hohe Gesundheitskompetenz und eine kompetente Nutzung digitaler Technologien. Alle weiteren Aspekte – von der Navigation im Gesundheitssystem über den Umgang mit Gesundheitsinformationen bis hin zur Resilienz in Krisen – subsumieren sich unter diesem grundlegenden Anspruch, Menschen in ihrer Menschlichkeit ernst zu nehmen und ihnen die Werkzeuge an die Hand zu geben, ein selbstbestimmtes, gesundes und würdevolles Leben zu führen.

Der folgende Diskurs über Gesundheitskompetenz ist daher kein rein technischer oder gesundheitspolitischer. Er ist ein Diskurs über die Frage, welche Art von Gesellschaft wir sein wollen: eine, die Komplexität auf den Einzelnen abwälzt und Ungleichheit reproduziert, oder eine, die Systeme und Strukturen so gestaltet, dass sie den Menschen dienen – in ihrer ganzen menschlichen Vielfalt und Würde.

Analyse der Studie zur Gesundheitskompetenz in Deutschland 2025 (HLS-GER 3): Ergebnisse, Entwicklungen und Implikationen

Gesundheitskompetenz in Deutschland – ein Wendepunkt?

Der dritte Health Literacy Survey Germany (HLS-GER 3) zeichnet ein komplexes und widersprüchliches Bild der Fähigkeit der Nation, mit Gesundheitsinformationen umzugehen. Erstmals seit Jahren gibt ein vorsichtiger Aufwärtstrend bei der allgemeinen und digitalen Gesundheitskompetenz Anlass zur Hoffnung und deutet darauf hin, dass ein erhöhter öffentlicher Fokus und die digitale Anpassung Früchte tragen. Dieser Fortschritt ist jedoch tief gespalten. Die Studie deckt eine sich weitende soziale Kluft auf, in der Verbesserungen den Privilegierten zugutekommen, während vulnerable Bevölkerungsgruppen zurückgelassen werden, was die gesundheitliche Ungleichheit verschärft. Ferner bestehen kritische Defizite fort: Die Fähigkeit, sich im komplexen Gesundheitssystem zurechtzufinden, bleibt alarmierend niedrig, und eine neu gemessene Dimension – die katastrophenbezogene Gesundheitskompetenz – offenbart eine tiefgreifende gesellschaftliche Verwundbarkeit. HLS-GER 3 ist daher nicht nur ein Statusbericht, sondern ein kritischer Aufruf zum Handeln, der eine Abkehr von der alleinigen Fokussierung auf individuelle Fähigkeiten hin zur Beseitigung systemischer Barrieren und sozialer Determinanten der Gesundheit fordert.

Einleitung und Kontext der HLS-GER-Studienreihe

Definition und Relevanz der Gesundheitskompetenz

Gesundheitskompetenz, die deutsche Übersetzung des international etablierten Begriffs ›Health Literacy‹, ist eine entscheidende Voraussetzung für die Verwirklichung gesundheitlicher Chancengleichheit (1). Sie wird definiert als die Fähigkeit von Menschen, relevante Gesundheitsinformationen in unterschiedlicher Form zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag Urteile fällen und Entscheidungen treffen zu können, die ihre Lebensqualität erhalten oder verbessern (2). Dieses Konzept umfasst nicht nur basale Lese- und Schreibfähigkeiten, sondern auch die kognitiven und sozialen Fertigkeiten, die für die Navigation im Gesundheitswesen und die fundierte Mitwirkung an Behandlungsentscheidungen erforderlich sind (2). Von zentraler Bedeutung ist das Verständnis, dass Gesundheitskompetenz nicht als rein individuelle Eigenschaft zu betrachten ist. Vielmehr resultiert sie aus dem Zusammenspiel persönlicher Kompetenzen und der Komplexität der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere der Anforderungen des Gesundheitssystems (2). Ein System, das unübersichtlich und zergliedert ist, stellt höhere Anforderungen an den Einzelnen und kann somit auch bei Personen mit guten individuellen Fähigkeiten zu einer geringen Gesundheitskompetenz führen.

Die HLS-GER-Studienreihe: Methodik und Entwicklung

Die Studie HLS-GER 3 ist die dritte Erhebungswelle in einer Reihe repräsentativer Bevölkerungsbefragungen, die auf den Vorgängerstudien HLS-GER 1 (2014) und HLS-GER 2 (2020) aufbaut (1). Diese Studienreihe liefert essenzielle Längsschnittdaten zur Entwicklung der Gesundheitskompetenz in Deutschland. Die methodische Kontinuität, insbesondere die Verwendung von Messinstrumenten, die aus den europäischen Health Literacy Surveys (HLS-EU-Q47, HLS19) abgeleitet wurden, gewährleistet eine hohe Vergleichbarkeit der Ergebnisse und ermöglicht eine robuste Trendanalyse über die Zeit (1).

Für die HLS-GER-3-Studie wurde eine repräsentative Stichprobe von 2.648 Erwachsenen in Deutschland zwischen Oktober 2024 und Januar 2025 befragt. Die Datenerhebung erfolgte durch das renommierte Institut für Demoskopie Allensbach mittels persönlicher Interviews (Paper-Assisted Personal Interviews, PAPI), was eine hohe Datenqualität sicherstellt (3). Über die bereits etablierten Messbereiche hinaus erweitert HLS-GER 3 das Untersuchungsspektrum um die erstmals erfasste ›Katastrophenbezogene Gesundheitskompetenz‹ (Disaster Health Literacy), eine Reaktion auf die zunehmende Relevanz von Krisen- und Katastrophenszenarien für die öffentliche Gesundheit (1).

Die Entwicklung der Studienreihe spiegelt eine zunehmende Ausdifferenzierung des Forschungsfeldes wider. Während die ersten Studien eine grundlegende Diagnose des Problems lieferten und einen sich verschlechternden Trend aufzeigten (4), begann HLS-GER 2 mit der Untersuchung spezifischer Teilkompetenzen wie der digitalen und navigationalen Gesundheitskompetenz (2). HLS-GER 3 setzt diesen Weg fort, indem die katastrophenbezogene Kompetenz hinzugefügt und regionale Schwerpunkte, beispielsweise in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, gesetzt werden (7). Diese thematische und geografische Verfeinerung zeigt, dass die Forschung von einer allgemeinen Problembeschreibung zu einer detaillierten Analyse spezifischer, handlungsrelevanter Bereiche übergeht.

Institutioneller Rahmen und internationale Einbettung

Die wissenschaftliche Autorität der Studie wird durch das Konsortium der durchführenden Institutionen untermauert: Die Projektleitung liegt bei der Universität Bielefeld, in enger Kooperation mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Hertie School (1). Die Förderung des Projekts erfolgt durch den Bosch Health Campus der Robert Bosch Stiftung, was die gesellschaftliche Relevanz des Themas unterstreicht (1).

Die HLS-GER-3-Studie ist zudem fest in einen internationalen Forschungsverbund integriert. Sie ist Teil des ›WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL)‹ (1). Dieses von der WHO Europa initiierte Netzwerk schafft den Rahmen für eine regelmäßige und methodisch standardisierte Erhebung von Daten zur Gesundheitskompetenz in der gesamten europäischen Region (12). Diese Einbettung ermöglicht nicht nur den internationalen Vergleich der deutschen Ergebnisse, sondern stellt auch sicher, dass die nationalen Befunde in den globalen Diskurs über Public Health einfließen.

Kernergebnisse der HLS-GER-3-Studie: Ein detaillierter Überblick

Allgemeine Gesundheitskompetenz (GK): Ein positiver Trend mit sozialen Schattenseiten

Das zentrale Ergebnis der HLS-GER-3-Studie ist ein leichter, aber statistisch signifikanter Anstieg der allgemeinen Gesundheitskompetenz in der deutschen Bevölkerung. Der Anteil der Personen mit einer geringen Gesundheitskompetenz (definiert als die Summe der Niveaus ›inadäquat‹ und ›problematisch‹) sank von 58,8 % in der HLS-GER-2-Erhebung auf 55,7 % (3). Dies markiert eine Trendwende nach einer zuvor beobachteten Verschlechterung zwischen 2014 und 2020 (4).

Die Verteilung auf die vier Kompetenzniveaus stellt sich wie folgt dar (3):

  • Inadäquate Gesundheitskompetenz: 27,1 %

  • Problematische Gesundheitskompetenz: 28,6 %

  • Ausreichende Gesundheitskompetenz: 26,3 %

  • Exzellente Gesundheitskompetenz: 18,1 %

Bei der Analyse der einzelnen Schritte der Informationsverarbeitung (Finden, Verstehen, Beurteilen, Anwenden) zeigen sich ebenfalls Verbesserungen, wobei der deutlichste Fortschritt im Bereich des Verstehens von Gesundheitsinformationen zu verzeichnen ist. Dennoch bleibt die Beurteilung von Informationen die größte Herausforderung für die Bevölkerung. So geben 73,3 % der Befragten an, Schwierigkeiten zu haben, die Vertrauenswürdigkeit von Informationen über Krankheiten in den Medien zu beurteilen (3).

Dieser insgesamt positive Trend wird jedoch von einem besorgniserregenden Befund überschattet: der Zunahme der sozialen Ungleichheit. Die Analyse zeigt, dass die Verbesserungen fast ausschließlich bei sozial und finanziell bessergestellten Bevölkerungsgruppen zu verzeichnen sind. Menschen mit niedrigem Sozialstatus und finanzieller Deprivation konnten von dieser positiven Entwicklung nicht profitieren (6). Dies führt zu einem Auseinanderdriften der Gesellschaft. Personen, die bereits über eine hohe Gesundheitskompetenz und entsprechende Ressourcen verfügen, sind in der Lage, das wachsende Informationsangebot zu nutzen, um ihre Kompetenzen weiter zu steigern. Gleichzeitig stagnieren jene Gruppen, die bereits zu Beginn benachteiligt waren. Hierdurch entsteht ein sich selbst verstärkender Kreislauf: Eine hohe Gesundheitskompetenz fördert gesundheitsbewusstes Verhalten und bessere Gesundheitsergebnisse, was wiederum die soziale und ökonomische Stabilität festigt. Eine geringe Gesundheitskompetenz hingegen erhöht das Risiko für ungünstiges Gesundheitsverhalten und verstärkt bestehende soziale Benachteiligungen (6).

Entwicklung der Gesundheitskompetenz in Deutschland (HLS-GER 2 vs. HLS-GER 3)

Datenquellen: (2)

Allgemeine GK

  • HLS-GER 2: 58,8 % mit geringer Kompetenz

  • HLS-GER 3: 55,7 % mit geringer Kompetenz

  • Veränderung: –3,1 Prozentpunkte

Digitale GK (DGK)

  • HLS-GER 2: 75,8 % mit geringer Kompetenz

  • HLS-GER 3: 71,1 % mit geringer Kompetenz

  • Veränderung: –4,7 Prozentpunkte

Navigationale GK (NGK)

  • HLS-GER 2: 82,8 % mit geringer Kompetenz

  • HLS-GER 3: 82,0 % mit geringer Kompetenz

  • Veränderung: –0,8 Prozentpunkte

Digitale Gesundheitskompetenz (DGK): Fortschritt im Informationsdschungel

Die digitale Gesundheitskompetenz (DGK) hat sich noch deutlicher verbessert als die allgemeine Gesundheitskompetenz. Der Anteil der Bevölkerung mit einer geringen DGK sank um 4,7 Prozentpunkte von 75,8 % (HLS-GER 2) auf 71,1 % (3). Diese Entwicklung ist bemerkenswert, da sie in einer Zeit stattfindet, die von einer wachsenden ›Infodemie‹ – einer Flut an digitalen Gesundheitsinformationen bei gleichzeitigem Anstieg von Falsch- und Desinformationen – geprägt ist.

Der Fortschritt bei der DGK korreliert mit einer stark gestiegenen Nutzung digitaler Gesundheitsangebote. Mittlerweile nutzen 83 % der Bevölkerung Internetseiten zur Gesundheitsinformation, was einem Anstieg von 18 Prozentpunkten in fünf Jahren entspricht. Die Verwendung von Gesundheits-Apps hat sich auf 44 % verdoppelt, und bereits 17 % der Bevölkerung setzen KI-basierte Anwendungen wie Chatbots für gesundheitliche Fragestellungen ein (6).

Allerdings offenbart sich hier ein Paradoxon aus wachsender Kompetenz und tiefem Misstrauen. Obwohl die funktionalen Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Werkzeugen zunehmen, bleibt die Fähigkeit zur kritischen Bewertung der Inhalte gering. Eine parallel durchgeführte Befragung der Bertelsmann Stiftung, die sich explizit auf die HLS-GER-3-Daten bezieht, zeigt, dass 93 % der Deutschen eine Qualitätssicherung für Online-Gesundheitsinhalte für wichtig halten (15). Viele fühlen sich durch Informationen auf Social-Media-Plattformen (59 %) und in Suchmaschinen (47 %) falsch informiert (15). Dies deutet darauf hin, dass die Bevölkerung zwar lernt, digitale Werkzeuge zu bedienen, aber weiterhin große Schwierigkeiten hat, die Vertrauenswürdigkeit der damit abgerufenen Informationen zu beurteilen. Die Fähigkeit, kommerzielle Interessen hinter digitalen Angeboten zu erkennen, bereitet 78,3 % der Befragten Schwierigkeiten (3). Es findet ein Wettlauf zwischen der Aneignung funktionaler Fähigkeiten und der Zunahme von komplexer Desinformation statt, bei dem die kritische Medienkompetenz bisher nicht Schritt halten kann.

Navigationale Gesundheitskompetenz (NGK): Stagnation im Labyrinth des Gesundheitssystems

Im scharfen Kontrast zu den positiven Entwicklungen bei der allgemeinen und digitalen Kompetenz steht die Stagnation bei der navigationalen Gesundheitskompetenz (NGK). Mit 82,0 % weist nach wie vor eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung eine geringe NGK auf. Dieser Wert hat sich im Vergleich zu HLS-GER 2 (82,8 %) praktisch nicht verändert (3).

Die Defizite sind konkret und alltagsrelevant: Der Mehrheit der Bevölkerung fällt es schwer, Informationen über die Funktionsweise des Gesundheitssystems zu verstehen (60,6 %) oder sich über die eigenen Rechte als Patientin oder Patient zu informieren (74,6 %) (3). Die Tatsache, dass in anderen Bereichen Lern- und Anpassungsprozesse stattfinden, während die NGK auf einem konstant niedrigen Niveau verharrt, legt eine wichtige Schlussfolgerung nahe: Das Problem liegt nicht primär bei den individuellen Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger, sondern in der inhärenten Komplexität, Bürokratie und mangelnden Transparenz des deutschen Gesundheitssystems selbst. Während man den Umgang mit einer App erlernen kann, ist es für den Einzelnen kaum möglich, sich die intransparenten Strukturen eines hochkomplexen Systems selbstständig zu erschließen. Die Ergebnisse sind somit ein starkes Indiz dafür, dass das System selbst eine Barriere darstellt und eine Steigerung der ›organisationalen Gesundheitskompetenz‹ – also die nutzerfreundliche Gestaltung des Systems – dringend erforderlich ist.

Katastrophenbezogene Gesundheitskompetenz (KatGK): Eine neue Dimension der Vulnerabilität

Die erstmalige Erhebung der katastrophenbezogenen Gesundheitskompetenz (KatGK) fördert ein alarmierendes Ergebnis zutage: 81,7 % der Bevölkerung in Deutschland weisen eine geringe KatGK auf (3). Dies bedeutet, dass eine große Mehrheit erhebliche Schwierigkeiten hat, im Falle einer Krise oder Katastrophe (wie einer Pandemie, einer Naturkatastrophe oder einem großflächigen Stromausfall) adäquate Gesundheitsinformationen zu finden und anzuwenden.

Konkret haben die Menschen große Probleme, Informationen darüber zu finden, wo sie im Katastrophenfall Hilfe bei gesundheitlichen Problemen erhalten können (70,9 %), wo sie Schutz vor Gesundheitsgefahren finden (71,7 %) oder wie sie mit den psychischen Belastungen nach einer Katastrophe umgehen können (3). Die Studienautoren führen diese Defizite auf einen Mangel an leicht zugänglichen und verständlichen Informationen zum richtigen Verhalten in gefährlichen Ausnahmesituationen zurück (6).

Dieses Ergebnis ist besonders brisant, da die Datenerhebung nach den intensiven Erfahrungen der COVID-19-Pandemie stattfand. Die Pandemie hätte als eine gesamtgesellschaftliche, praktische Übung zur Stärkung der KatGK wirken können. Dass die Kompetenz dennoch auf einem derart niedrigen Niveau liegt, deutet auf ein fundamentales Versagen der öffentlichen Gesundheitskommunikation und der Krisenvorsorgestruktur hin. Die bereitgestellten Informationen waren für die Mehrheit der Bevölkerung offenbar nicht zugänglich, nicht verständlich, nicht vertrauenswürdig oder nicht handlungsleitend. In einer Zeit zunehmender globaler Risiken stellt eine Bevölkerung, die im Krisenfall nicht in der Lage ist, sich selbst und andere wirksam zu schützen, eine erhebliche nationale Schwachstelle dar.

Detaillierte Verteilung der Kompetenzniveaus in HLS-GER 3

Datenquelle: (3)

Allgemeine GK

  • Inadäquat: 27,1 %

  • Problematisch: 28,6 %

  • Ausreichend: 26,3 %

  • Exzellent: 18,1 %

Digitale GK (DGK)

  • Inadäquat: 59,5 %

  • Problematisch: 11,6 %

  • Ausreichend: 11,8 %

  • Exzellent: 17,1 %

Navigationale GK (NGK)

  • Inadäquat: 68,9 %

  • Problematisch: 13,1 %

  • Ausreichend: 8,8 %

  • Exzellent: 9,2 %

Katastrophenbezogene GK (KatGK)

  • Inadäquat: 69,0 %

  • Problematisch: 12,7 %

  • Ausreichend: 8,4 %

  • Exzellent: 10,0 %

Synthese und Implikationen: Von Daten zu Handlungsperspektiven

Synthese der Befunde: Das Paradox des Fortschritts

Die Ergebnisse der HLS-GER-3-Studie signalisieren einen kritischen Wendepunkt. Einerseits zeigen die positiven Entwicklungen bei der allgemeinen und digitalen Gesundheitskompetenz, dass Fortschritt möglich ist. Eine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit für Gesundheitsthemen, wie sie während der Pandemie stattfand, sowie die fortschreitende Digitalisierung des Alltags scheinen Lernprozesse in der Bevölkerung anzustoßen. Andererseits machen die Befunde unmissverständlich klar, dass die individuelle Anpassungsfähigkeit an ihre Grenzen stößt. Die Stagnation bei der Navigationskompetenz, die eklatanten Mängel bei der Katastrophenkompetenz und vor allem die sich vertiefende soziale Kluft belegen, dass die verbleibenden Hürden systemischer, struktureller und sozialer Natur sind. Die alleinige Aufforderung an den Einzelnen, seine Kompetenzen zu steigern, greift zu kurz, wenn das System selbst undurchsichtig und die gesellschaftlichen Startbedingungen ungleich sind.

Handlungsempfehlungen für die Politik und das öffentliche Gesundheitswesen

Aus den Befunden lassen sich konkrete Handlungsempfehlungen ableiten, die auf eine nachhaltige Stärkung der Gesundheitskompetenz in Deutschland abzielen:

  • Bekämpfung der gesundheitlichen Ungleichheit: Universelle Informationskampagnen reichen nicht aus, da sie tendenziell jene besser erreichen, die bereits informiert sind. Es bedarf der Entwicklung und Finanzierung gezielter, kultursensibler und partizipativ gestalteter Interventionen für vulnerable Gruppen. Dazu zählen insbesondere Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, niedrigem Bildungsabschluss, ältere Menschen und Personen mit Migrationshintergrund, wie sie in den HLS-GER- und HLS-MIG-Studien identifiziert wurden (5).

  • Systemreform durch organisationale Gesundheitskompetenz: Um das Defizit bei der Navigationskompetenz zu beheben, muss das Gesundheitssystem selbst ›gesundheitskompetenter‹ werden. Dies erfordert eine nationale Strategie zur Förderung der organisationalen Gesundheitskompetenz. Konkrete Maßnahmen umfassen die verpflichtende Vereinfachung administrativer Prozesse, die Entwicklung standardisierter und leicht verständlicher Kommunikationsvorlagen für Leistungserbringer sowie den Ausbau unabhängiger und niedrigschwelliger Patientenberatungs- und Lotsenangebote (3).

  • Schaffung vertrauenswürdiger digitaler Räume: Der Wettlauf zwischen digitaler Kompetenz und Desinformation kann nur durch die Schaffung verlässlicher Informationsquellen gewonnen werden. Es wird die Einrichtung eines nationalen, staatlich geförderten und qualitätszertifizierten Gesundheitsinformationsportals empfohlen. Eine solche Plattform könnte, wie von der Bertelsmann Stiftung angeregt, eine vertrauenswürdige Alternative zu kommerziellen und unzuverlässigen Quellen bieten und die kritische Bewertung von Informationen erleichtern (15).

  • Stärkung der Krisenfestigkeit: Die gravierenden Mängel bei der katastrophenbezogenen Gesundheitskompetenz erfordern eine grundlegende Überarbeitung der nationalen Krisenkommunikationsstrategien. Es müssen klare, handlungsleitende, über verschiedene Kanäle verbreitete und vorab getestete Kommunikationspläne für unterschiedliche Krisenszenarien entwickelt werden. Dies ist eine Aufgabe der nationalen Sicherheit und des öffentlichen Gesundheitsschutzes (3).

Handlungsempfehlungen für Gesundheitsberufe und Bildungseinrichtungen

  1. Für Gesundheitsberufe: Die Kommunikation zwischen Fachpersonal und Patienten ist ein entscheidender Faktor. Die Ausbildung in gesundheitskompetenter Kommunikation (z. B. durch die Verwendung einfacher Sprache und der Teach-back-Methode) muss fest in die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Medizin- und Pflegeberufen integriert werden. Dies adressiert direkt die in HLS-GER 2 festgestellten Kommunikationsschwierigkeiten (2).

  2. Für Bildungseinrichtungen: Gesundheitskompetenz muss als lebenslanger Lernprozess verstanden werden. Gemäß den Empfehlungen des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz sollten gesundheitliche, digitale und staatsbürgerliche Kompetenzen – einschließlich der Fähigkeit, Desinformation zu erkennen – als Kernkompetenzen von frühester Kindheit an in den Lehrplänen von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen verankert werden (17).

Anhang: Zugang zur Studie und weiterführende Materialien

Link zur Studie und Primärdokumenten

Zum aktuellen Zeitpunkt ist der vollständige, wissenschaftlich begutachtete Ergebnisbericht der HLS-GER-3-Studie noch nicht publiziert. Die Veröffentlichung der finalen Studie ist für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen (6). Die Präsentation der Kernergebnisse findet am 9. Oktober 2025 in Berlin statt (7).

Die derzeit maßgeblichen und öffentlich zugänglichen Dokumente mit den zentralen Ergebnissen sind:

Offizielle Projektseite der Universität Bielefeld: Hier finden sich aktuelle Informationen und zukünftige Veröffentlichungen zur Studie.

Factsheet mit Kernergebnissen: Eine offizielle Zusammenfassung der wichtigsten quantitativen Ergebnisse der HLS-GER-3-Studie.

Weiterführende Ressourcen

Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz: Bietet den politischen und strategischen Rahmen für die Förderung der Gesundheitskompetenz in Deutschland.

WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL): Stellt Informationen zum internationalen Kontext und zu vergleichenden europäischen Daten bereit.

Referenzen

  1. Gesundheitskompetenz in Deutschland – HLS-GER 3 - Universität Bielefeld, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/gesundheitswissenschaften/ag/ag6/projekte/hl-deutschland-3.xml

  2. Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland vor und während der Corona Pandemie Ergebnisse des HLS-GER 2 - M-POHL, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://m-pohl.net/sites/m-pohl.net/files/2021-02/HLS-GER%202.pdf

  3. Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland Ergebnisse des HLS-GER 3 - Uni Bielefeld, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/erziehungswissenschaft/izgk/forschung/hls-ger-3-1/Factsheet-HLS-GER-3.pdf

  4. Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland im Zeitvergleich der Jahre 2014 und 2020 - PMC, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11248117/

  5. Sachbericht - Gesundheitskompetenz in Deutschland – Wiederholungsbefragung des HLS-GER (HLS-GER 2), Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Abschlussberichte/20230515Sachbericht_HLS-GER2.pdf

  6. HLS-GER 3 - Universität Bielefeld, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/erziehungswissenschaft/izgk/forschung/hls-ger-3-1/

  7. Gesundheitskompetenz 2025 | Robert Bosch Stiftung, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.bosch-stiftung.de/de/veranstaltungen/gesundheitskompetenz-2025

  8. Aktuelles - Universität Bielefeld, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/erziehungswissenschaft/izgk/aktuelles/

  9. Gesundheitskompetenz 2025: Ein Blick zurück und nach vorn - Gesundheit Berlin-Brandenburg, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.gesundheitbb.de/veranstaltungen/veranstaltung/gesundheitskompetenz-2025-ein-blick-zurueck-und-nach-vorn

  10. Jetzt anmelden: Gesundheitskompetenz 2025 - Ein Blick zurück und einer nach vorn, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.nap-gesundheitskompetenz.de/2025/06/16/save-the-date-gesundheitskompetenz-2025-ein-blick-zur%C3%BCck-und-nach-vorn/

  11. Der HLS-GER geht in die dritte Runde - nap-gesundheitskompetenz.de, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.nap-gesundheitskompetenz.de/2024/03/20/der-hls-ger-geht-in-die-dritte-runde/

  12. HLS19 | M-POHL - WHO Action Network on Measuring Population ..., Zugriff am Oktober 11, 2025, https://m-pohl.net/HLS19

  13. Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL), Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.who.int/europe/groups/action-network-on-measuring-population-and-organizational-health-literacy-(m-pohl)

  14. Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz - Bosch Health Campus, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.bosch-health-campus.de/sites/default/files/documents/2023-07/Nationaler%20Aktionsplan%20Gesundheitskompetenz%20%281%29.pdf

  15. Deutsche wünschen sich vertrauenswürdige ... - Bertelsmann Stiftung, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2025/deutsche-wuenschen-sich-vertrauenswuerdige-gesundheitsinformationen-im-netz

  16. Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland Ergebnisse des HLS-MIG - Robert Bosch Stiftung, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.bosch-stiftung.de/sites/default/files/publications/pdf/2022-01/Studie_Gesundheitskompetenz_von_Menschen_mit_Migrationshintergrund_in_Deutschland.pdf

  17. Health literacy - Universität Bielefeld, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/gesundheitswissenschaften/ag/ag6/hliteracy/

  18. RELEASE of the International Report of the European Health Literacy Population Survey 2019-2021 | M-POHL, Zugriff am Oktober 11, 2025, https://m-pohl.net/NB1

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