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Transgenerationale Abhängigkeiten

Cultural Strategic Foresight

Kognitive Pfadabhängigkeit beschreibt, wie historische Denkmuster und Praktiken über Generationen fortbestehen, selbst wenn sie nicht mehr sinnvoll sind. Dies zeigt sich beispielsweise im deutschen Schwimmunterricht, wo Brustschwimmen traditionell als erste Schwimmart gelehrt wird, trotz besserer Alternativen. Solche transgenerationalen Abhängigkeiten können Innovation und Anpassung erschweren.

Verfasst von: Frank Stratmann

3.1

Update vom 13.07.2025

Im Kapitel Allgemeine Pfadabhängigkeiten haben wir schon über die Bedeutung dieses Phänomens für die Schicht der Weltbilder besprochen.

Weltbilder prägen unser Denken und Handeln oft tiefer, als wir uns bewusst sind. Sie formen nicht nur unsere Wahrnehmung der Realität, sondern beeinflussen auch konkrete Entscheidungen und Praktiken, die über Generationen weitergegeben werden.

Kognitive Pfadabhängigkeit

Kognitive Pfadabhängigkeit ist ein Konzept, das beschreibt, wie frühere Denkmuster, Überzeugungen und Lernprozesse die späteren Wahrnehmungen, Interpretationen und Entscheidungen eines Individuums oder einer Organisation beeinflussen und einschränken.

Es geht über die allgemeine Pfadabhängigkeit (bei der vergangene Ereignisse zukünftige Entwicklungen beeinflussen) hinaus, indem es den Fokus explizit auf die mentale und teils unbewusste Ebene legt.

Hier sind die Kernpunkte, die man unter kognitiver Pfadabhängigkeit versteht:

  • Selbstverstärkung kognitiver Muster: Einmal etablierte Denkweisen, Annahmen, Routinen oder sogar Vorurteile neigen dazu, sich selbst zu verstärken. Das bedeutet, dass man dazu tendiert, Informationen so zu interpretieren, dass sie die bestehenden kognitiven Schemata bestätigen, und alternative Perspektiven oder Handlungsoptionen auszublenden.

  • »Lock-in« auf kognitiver Ebene: Dieser Selbstverstärkungseffekt kann zu einem »Lock-in« führen, bei dem es sehr schwierig wird, von einmal eingeschlagenen kognitiven Pfaden abzuweichen. Auch wenn neue Informationen oder sich ändernde Umweltbedingungen zeigen, dass alternative Denkweisen oder Handlungen vorteilhafter wären, fällt es schwer, diese zu erkennen oder umzusetzen. Man bleibt an vertrauten Praktiken und Annahmen hängen.

  • Begrenzte Rationalität und Informationsverarbeitung: Kognitive Pfadabhängigkeit ist oft mit begrenzter Rationalität verbunden. Menschen und Organisationen haben begrenzte Kapazitäten, Informationen zu verarbeiten und alle möglichen Optionen zu bewerten. Sie greifen daher auf Heuristiken (vereinfachte Denkregeln) und bestehende kognitive Modelle zurück, die sich in der Vergangenheit als nützlich erwiesen haben, aber in neuen Kontexten ineffizient oder sogar schädlich sein können. (vgl. hier Kahnemann: Schnelles Denken – langsames Denken)

Historische Prägung

Die kognitiven Pfade entstehen durch vergangene Erfahrungen, Lernprozesse und Entscheidungen. Das bedeutet, dass die »Geschichte zählt« – nicht nur in Bezug auf äußere Umstände, sondern auch auf die Entwicklung der inneren kognitiven Strukturen.

  • Implikationen für die Entscheidungsfindung und den Wandel: Kognitive Pfadabhängigkeit erklärt, warum Individuen und Organisationen oft Schwierigkeiten haben, sich an neue Gegebenheiten anzupassen, Innovationen anzunehmen oder Fehler zu korrigieren. Sie kann dazu führen, dass sogar ineffiziente, suboptimale und bisweilen destruktive Denkweisen und Verhaltensweisen beibehalten werden, weil sie tief in den kognitiven Mustern verankert sind. Beispiele:

  • Unternehmenskultur: Eine Unternehmenskultur, die über Jahre hinweg bestimmte Werte und Vorgehensweisen etabliert hat, kann kognitiv pfadabhängig sein. Neue Mitarbeiter oder externe Impulse werden dann oft durch die Brille dieser bestehenden Kultur interpretiert, was die Einführung grundlegender Veränderungen erschwert. (vgl. »Das haben wir immer so gemacht!«)

  • Expertenwissen: Ein Experte, der sich über Jahrzehnte hinweg auf ein bestimmtes Fachgebiet spezialisiert hat, kann Schwierigkeiten haben, neue Paradigmen oder Technologien zu akzeptieren, die seinem etablierten Wissen widersprechen, auch wenn diese objektiv überlegen sind.

  • Persönliche Gewohnheiten: Das Festhalten an bestimmten Gewohnheiten oder Lösungsansätzen im Alltag, selbst wenn effektivere Alternativen existieren, kann ebenfalls eine Form kognitiver Pfadabhängigkeit sein. Manchmal nennt man das Komfortzone, deren Beschreibung dem Betroffenen selbst schwerfällt. Oft empfinden Menschen es als konfrontativ und wählen den Weg des geringsten Widerstands, was zur Folge hat, dass sie sich ihren Gewohnheiten unterwerfen. Erst ein neues Niveau der Reflexionsfähigkeit erlaubt es dann, sich den eigenen Konditionierungen zu stellen und langsam eine Veränderung einzuleiten.

Wichtig für die Phase der Dekonstruktion ist es, diese Zusammenhänge zu erkennen und aufzudecken. Das allein kann schon Veränderungswunsch auslösen. Jedoch sind wir zu diesem Zeitpunkt bis jetzt nicht so weit. Das lässt sich anschaulich am Beispiel des Brustschwimmens erklären. Damit wird auf erschreckende Weise klar, das Veränderungen im Bereich der kognitiven Dimension und in historischen Zusammenhängen nicht im Hauruck-Verfahren eingeleitet werden.

Historische Prägung am Beispiel Brustschwimmen – ein kulturelles Phänomen in Deutschland

In Deutschland wird traditionell das Brustschwimmen als erste Schwimmart gelehrt. Diese Praxis hat sich tief in das kollektive Verständnis eingebrannt, wie Schwimmen »richtig« zu erlernen sei. Im Gegensatz dazu beginnt man in den USA, Australien und skandinavischen Ländern oft mit dem Kraulen.

Historische Wurzeln dieser Divergenz

Diese Unterschiede sind nicht zufällig entstanden, sondern haben konkrete historische Ursachen:

  • Im 19. Jahrhundert wurde Brustschwimmen in militärischen Einheiten bevorzugt, da Soldaten mit Ausrüstung und Waffen Flüsse überqueren mussten.

  • Das Kopf-über-Wasser-Prinzip des Brustschwimmens ermöglichte den Soldaten, Kommandos zu hören und die Orientierung im Gelände zu behalten.

  • Ernst Heinrich Adolf von Pfuel, ein preußischer General, etablierte diese Schwimmart als festen Bestandteil des militärischen Trainings, was die Schwimmausbildung im gesamten deutschsprachigen Raum nachhaltig prägte.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das Brustschwimmen in deutschen Schulen die dominierende, erste Schwimmart. Dies lag weniger an didaktischen Überlegungen als an praktischen Gründen:

  • Es war für Lehrkräfte einfacher, eine Gruppe von Brustschwimmern zu beaufsichtigen, da die Köpfe stets über Wasser blieben.

  • Die Tatsache, dass Brustschwimmen technisch anspruchsvoller und für Anfänger tatsächlich schwieriger zu erlernen ist als das Kraulen, wurde lange Zeit ignoriert.

Weltbilder und ihre Beharrungskraft

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie Weltbilder und Praktiken, die unter spezifischen historischen Bedingungen entstanden sind, über Generationen hinweg Bestand haben können – selbst wenn sich die ursprünglichen Rahmenbedingungen längst geändert haben. Militärische Notwendigkeiten des 19. Jahrhunderts prägen bis heute den Schwimmunterricht in deutschen Schulen.

Erst in jüngerer Zeit mehren sich die Stimmen, die für einen Paradigmenwechsel plädieren und das Kraulen als erste zu erlernende Schwimmart empfehlen. Dieser langsame Wandel zeigt, wie tief verwurzelt kulturelle Praktiken sein können und wie viel Zeit und Überzeugungsarbeit nötig ist, um etablierte Weltbilder zu verändern.

Projektionen in die Gegenwart

Die Beharrlichkeit solcher tradierten Vorstellungen lässt sich auch in anderen Bereichen beobachten:

  • In der Bildung, wo Unterrichtsmethoden oft mehr von Tradition als von aktueller Forschung bestimmt werden. Unlängst trafen wir einen Lehrer, der darauf beharrte, dass die Abfolge der Buchstaben, wie wir sie mit dem Alphabet (ABC) verinnerlicht haben, einen Sinn habe und die Buchstaben deshalb in dieser Reihenfolge vermittelt werden sollten.

  • In der Arbeitswelt, wo bestimmte Hierarchiemodelle fortbestehen, obwohl sie unter heutigen Bedingungen möglicherweise nicht mehr optimal sind, ist ein weiteres Beispiel. Der Kittel des Chefarztes wirkt gegenüber dem seiner Oberärzte gelegentlich noch ein weniger weißer oder unterscheidet sich im Modell. Die militärhistorische Hierarchie mag sich in diesem Umstand spiegeln.

  • In gesellschaftlichen Normen und Werten, die häufig Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte überdauern, kann das überall auf der Welt beobachtet werden. Die anthropologische Konstante einer Skepsis gegenüber dem Fremden ist hier wohl das beste Beispiel. Was einmal zum Schutz der eigenen Sippe diente, steckt immer noch in uns.

Das Beispiel des Brustschwimmens verdeutlicht, wie wichtig es ist, die historische Dimension unserer Weltbilder zu reflektieren und zu hinterfragen, ob Praktiken, die unter bestimmten historischen Bedingungen sinnvoll waren, auch heute noch die besten Lösungen darstellen.

Ergo

Das Phänomen der transgenerationalen Abhängigkeiten, bei dem historisch entstandene Praktiken und Denkweisen über ihre ursprüngliche Zweckmäßigkeit hinaus fortbestehen, ordnen wir der »kognitiven Pfadabhängigkeit« zu. Der Begriff beschreibt, wie einmal etablierte Denk- und Handlungsmuster eine Eigendynamik entwickeln und durch soziale Weitergabe, institutionelle Verankerung und kollektive Gewöhnung selbstverstärkend wirken.

Transgenerationale Pfadabhängigkeit erklärt, warum bestimmte Praktiken – wie das Lehren des Brustschwimmens als erste Schwimmart – auch dann beibehalten werden, wenn ihre ursprüngliche Begründung nicht mehr relevant ist oder sogar bessere Alternativen existieren. Die »Kosten« des Wechsels werden dabei oft höher eingeschätzt als der potenzielle Nutzen.

Diese kulturelle Trägheit ist kein rein negatives Phänomen. Sie schafft Kontinuität und Vorhersehbarkeit in sozialen Systemen. Gleichzeitig kann sie jedoch Innovation und Anpassung an veränderte Bedingungen erschweren, wenn nicht regelmäßig eine kritische Reflexion der zugrundeliegenden Annahmen stattfindet.

Für die kulturelle Vorausschau ist es also wichtig, sich den eingeschliffenen Mustern zu stellen, um besser zu verstehen, was die Zukunft beeinflussen kann. Wer aktiv eine bevorzugte Zukunft gestalten will, hat hier im Rahmen der Dekonstruktion eine Aufgabe.

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Frank Stratmann

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Ich bin Frank Stratmann – ein Cultural-Foresight-Analyst und Designer für deliberative Kommunikation.
Bekannt als @betablogr.

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