Neue Überzeugung
TikTok und Krankenkassen
Update from 15.10.2025
Die Unsicherheit darüber, ob Krankenkassen und Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäuser oder Arztpraxen am TikTok-Game teilhaben sollten, könnte größer nicht sein. Sascha Lobo nennt die Medienplattform aus China in seinem Deep Dive aus Oktober 2025 ein digitales Weltkulturerbe und eine Sensation aus Kreativität, Aufmerksamkeitsmacht und algorithmischer Intelligenz.
Wir gehen es einmal grundsätzlicher an und beleuchten den Unterschied zwischen TikTok als neuer Form eines algorithmischen Mediums und einem sozialen Medium, wie wir es eigentlich von einem sozialen Netzwerk gewohnt sind, wenn es sich medial formiert.
Die Unterscheidung zwischen ›algorithmischem Medium‹ und ›sozialem Medium‹ erhält überraschende Überlegungen bereit, wenn Krankenkassen und Gesundheitseinrichtungen darüber nachdenken, dort einzusteigen.
Ob solidarisch erhobene Mittel der Versicherten für ihre Teilhabe bei TikTok einzusetzen sind, will ich damit nicht beantworten. Es erscheint jedoch folgerichtig, wenn das Gesundheitssystem eine Vielzahl von Krankenkassen ermuntert, im Wettbewerb zu stehen, ohne dass man dabei auf traditionelle Merkmale aus der absatzorientierten Realwirtschaft zurückgreifen könnte.
Krankenkassen investieren deshalb verstärkt in Markenbildung, Kommunikation und Sichtbarkeit – mit dem Ziel, ihre Marken zu differenzieren und ihre Reputation zu stärken. Ein Engagement bei TikTok und vergleichbaren Medien gehört damit zum Handwerk.
Aktuell diskutiere ich diese Frage mit den Teilgebern der Usergroup Vertriebs- und Produktmanagement von Krankenversicherungen bei den Gesundheitsforen Leipzig. Bis zum nächsten Treffen im März 2026 versuchen wir, uns einen Überblick zu verschaffen und die Entwicklungen um die Plattform insbesondere auch in den USA besser zu verstehen. Der in den Vereinigten Staaten unter Einfluss der dortigen Regierung entstehende Ableger der Plattform unter neuen Eigentumskonstellationen dürfte auch den europäischen Rechtsraum und damit Deutschland beschäftigen.
In diesem Beitrag konzentrieren wir uns zunächst auf die Unterscheidung der beiden Dimensionen einer algorithmischen und einer sozialmedialen Form mit einer Perspektive für Krankenkassen. Grundsätzlich lassen sich die Kenntnisse auch von Gesundheitseinrichtungen nachvollziehen.
Algorithmisches Medium
TikTok ist kein soziales, sondern eine algorithmische Form im Medium Internet. Während klassische soziale Medien Inhalte primär durch Abonnements und soziale Verbindungen bestimmen, stammen bei TikTok 80–90 % der angezeigten Inhalte von nicht abonnierten Accounts. Die Sichtbarkeit entsteht durch algorithmische Zuteilung, nicht durch bewusste Abonnenten-Beziehungen (Followerstrukturen).
Algorithmus-gesteuerte Reichweite: Der TikTok-Algorithmus wird für jede Person individuell trainiert und lernt aus allen Datenpunkten – Interaktionen, Scrollgeschwindigkeit, Verweildauer, sogar Nicht-Reaktionen. Bereits nach 250–300 Videos entsteht ein präzises Interessenprofil.
Verweildauer als Erfolgskriterium: Der Algorithmus optimiert auf maximale Verweildauer jedes einzelnen Nutzers. Gesundheitsinformationen konkurrieren mit Entertainment-Content um dieselbe Währung: Aufmerksamkeit in Zeit.
Emotionale Zuspitzung: Der Algorithmus bevorzugt strukturell Inhalte, die starke emotionale Reaktionen auslösen – unabhängig davon, ob es sich um Zustimmung, Freude oder Wut handelt. Sachliche Gesundheitskommunikation müsste sich dieser Logik anpassen oder bleibt unsichtbar.
Variable Belohnungssysteme: Wie bei Spielautomaten wird das Belohnungsgefühl (das nächste gute Video) nie ganz vorhersehbar geliefert. Das hält das Gehirn in Dauererwartung und nutzt Suchtpotenziale beim Nutzer – eine problematische Mechanik für Institutionen, die Gesundheit eigentlich fördern sollten.
Algorithmische Serendipität: TikTok rekonstruiert das Prinzip des »Findens ohne Suchen«. Der Algorithmus schlägt Videos vor, von denen Nutzer nicht wussten, dass sie sie sehen wollten – ein Gefühl von Zufall, das aber reine Berechnung ist.
Kontrolle durch Plattform: Wer den Algorithmus kontrolliert, kontrolliert Sichtbarkeit. Geleakte Dokumente zeigen systematische Reichweitenbeschränkungen bestimmter Begriffe und Inhalte. Krankenkassen geben damit einen Teil ihrer kommunikativen Autonomie ab.
Content-Masse und Produktionsdruck: TikTok ist zur größten Content-Produktionsmaschine geworden. Features wie Stitches, Duette und Reaction-Videos fördern massenhaftes Remixen. Der Algorithmus belohnt diejenigen, die nie aufhören, und bestraft Pausen. Das Phänomen ist schon von YouTube bekannt und bindet kontinuierlich Ressourcen, die aus Versichertenbeiträgen finanziert werden müssten.
KI-Integration: Generative KI (z. B. Creative Assistant basierend auf ByteDance’ Sprachmodell Grace) ist tief integriert und unterstützt bei Ideen, Skripten, Untertiteln und Hashtags. TikTok arbeitet darauf hin, dass voll automatisierte Kampagnen möglich werden – vom Produktlink zur fertigen Werbestrategie. Dies wirft Fragen nach Authentizität und Verantwortung in der Versorgungskommunikation auf.
Kurzformat-Zwang: Die Logik des Kurzvideos erschwert differenzierte Gesundheitsaufklärung. Komplexe medizinische Zusammenhänge müssen auf Sekunden verdichtet werden.
Pragmatische Urheberpraxis: TikTok handhabt Urheberrecht vergleichsweise lax. Videos werden neu geschnitten, gespiegelt, als Memes verarbeitet – eine eigene Berufsgruppe der ›Clipper‹ ist entstanden, die hauptberuflich Content neu kombiniert.
Soziales Medium
Im Gegensatz dazu steht das klassische soziale Medium, bei dem soziale Verbindungen und bewusste Abonnements im Zentrum stehen. Hier wird der Feed primär durch die eigenen Entscheidungen bestimmt, welchen Institutionen man folgen möchte.
Soziale Verbindungen: Der Feed wird durch Abonnements bestimmt. Nutzer entscheiden bewusst, welchen Institutionen sie folgen möchten.
Vorhersehbare Reichweite: Follower garantieren eine gewisse Grundreichweite. Die Beziehung zwischen Institution und Versicherten ist kalkulierbarer.
Interesse an Absender: Klassische soziale Medien basieren auf dem Interesse an der Institution selbst, nicht auf algorithmisch optimierten Einzelinhalten.
Aktive Suche: Nutzer suchen gezielt nach Gesundheitsinformationen ihrer Krankenkasse oder Einrichtung.
Kontrolle über Inhalte: Die Institution behält größere Kontrolle darüber, wer ihre Inhalte sieht und wie sie präsentiert werden.
Langformat-Möglichkeit: Klassische soziale Medien erlauben ausführlichere Darstellungen, die der Komplexität von Gesundheitsthemen gerechter werden können.
Solidarität, öffentlicher Auftrag und Plattformlogik
Diese Unterscheidung operiert im Kontext mehrerer Spannungsfelder:
Solidarprinzip vs. Marketinglogik: Krankenkassen finanzieren sich aus solidarisch erhobenen Beiträgen. Ihr Kernauftrag ist die Finanzierung von in Anspruch genommenen Gesundheitsleistungen zur Prävention oder Kompensation von Krankheit. Markenbildung erscheint als Phänomen im Pseudowettbewerb um die Gunst der pflichtversicherten Mitglieder.
Der Einsatz von Versichertenmitteln für TikTok-Präsenz verschiebt Ressourcen von der Versorgung zur Sichtbarkeit.
Öffentlicher Auftrag vs. Plattformabhängigkeit: Krankenkassen unterstellen sich seit einiger Zeit selbst einen Bildungs- und Informationsauftrag. TikToks algorithmische Logik kann diesem Auftrag widersprechen, wenn nur emotional zugespitzte oder entertainment-orientierte Inhalte Reichweite erhalten.
Aufmerksamkeitsökonomie im Gesundheitswesen: TikTok folgt einer radikal chinesischen Plattformlogik: alles bündeln, vereinfachen, automatisieren. Die App verkürzt den Weg von der Werbung zum Produkt (TikTok Shop soll 2025 außerhalb Chinas 66 Milliarden Dollar Bruttowarenvolumen erreichen). Wenn Gesundheitskommunikation nach diesen Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie funktionieren muss, stellt sich die Frage, ob gesundheitsfördernde Information überhaupt noch möglich ist – oder ob sie der Plattformlogik geopfert wird. TikTok Shop verbindet Unterhaltung, Empfehlungen und Kauf direkt in der App. Marken und Händler listen Produkte, Creators bewerben sie in Videos oder LIVE‑Streams, und Nutzer können, ohne die App zu verlassen, kaufen – inklusive Warenkorb, Bezahlung, Versand und Rückgaben. Das System fördert Social Commerce über Affiliate‑Programme, bei denen Creators für verknüpfte Produktverkäufe verdienen.
Reputation durch Algorithmus: Die Differenzierung von Marken und der Aufbau von Reputation werden auf TikTok nicht durch Qualität der Versorgung oder Vertrauenswürdigkeit erzielt, sondern durch algorithmische Sichtbarkeit. Selbst Superstars mit Millionen Abonnenten müssen konstant neuen Content liefern – Follower zählen wenig, wenn der Algorithmus nicht mitspielt.
Demographische Reichweite und neue Nutzungsformen: TikTok erreicht primär jüngere Zielgruppen. Über 70 % der sogenannten Generation Z nutzen TikTok als Suchmaschine – oft lieber als Google. Menschen unter 30 sehen TikTok als wichtigste Plattform für Unterhaltung, Trends, Nachrichten, Kultur, Bildung und Shopping. Dies kann als Argument für Präsenz dienen – stellt aber die Frage, ob die Plattform-Teilhabe der angemessene Weg ist.
Transparenz und Kontrolle: Der TikTok-Algorithmus ist intransparent. Krankenkassen wissen nicht, nach welchen Kriterien ihre Inhalte verbreitet werden – und ob diese Kriterien mit ihrem Versorgungsauftrag vereinbar sind. Nach der erzwungenen Abspaltung in den USA steht TikTok dort unter Kontrolle Trump-naher Investoren, mit geplantem Regierungseinfluss im Vorstand. Hier deutet sich womöglich eine neue Form algorithmischer Gleichschaltung an.
Politische Wirkung: Bei der Bundestagswahl 2025 wählten ErstwählerInnen zu 26 % die Linke und zu 21 % die AfD – genau die Parteien mit den größten TikTok-Reichweiten. Der Algorithmus belohnt emotionale, populistische Zuspitzungen strukturell. Kurze, klare Botschaften mit Empörung und emotionalisierenden Schlagworten sind »perfektes Algorithmusfutter« – unabhängig davon, ob sie ganz richtig sind.
Die offene Frage
Sollen Krankenkassen und Gesundheitseinrichtungen solidarisch erhobene Zuwendungen der Versicherten zur Differenzierung ihrer Marken oder ihrer Reputation für die Teilhabe bei TikTok einsetzen?
Die Frage bleibt offen. Sie berührt grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von öffentlichem Auftrag und Plattformlogik, von Solidarprinzip und Aufmerksamkeitsökonomie, von Versorgungskommunikation und algorithmischer Kontrolle.
Die Unterscheidung zwischen algorithmischem und sozialem Medium zeigt, dass es nicht nur um die Wahl eines Kanals geht, sondern um die Frage, welche Logik die Gesundheitskommunikation bestimmen soll – und ob diese Logik mit dem Auftrag öffentlicher Institutionen vereinbar ist.
Sascha Lobo formuliert es so: »TikTok ist auf sehr viele Arten viel zu machtvoll, als dass man es einfach nur machen lassen könnte.« Gleichzeitig nennt er TikTok ein »digitales Weltkulturerbe« – eine Sensation aus Kreativität, Aufmerksamkeitsmacht und algorithmischer Intelligenz. Diese Spannung bleibt bestehen und erfordert demokratische Kontrolle, Transparenz und öffentlichen Druck, insbesondere da die EU ökonomisch wichtig genug ist, dass TikTok sich nicht leisten kann, alle zu verprellen.
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