Was, wenn die Zukunft der Gesundheit nicht an neuen Geräten entschieden wird, sondern daran, welche Distinktionen wir treffen? Prominent lässt sich diese Frage besser verstehen, wenn wir uns anschauen, wie die Menschen sich für WhatsApp entschieden und die SMS beerdigten. IP-gestützte Übertragungswege ließen die Menschen auf ein Smartphone umsteigen. Das Datenvolumen sicherte die sorglose Übertragung von Kurznachrichten, die nicht mehr pro Einheit abgerechnet wurden, sondern eine Aura der Kostenlosigkeit suggerierten.
Dieser Text schaut auf Prävention, Automatisierung und Hyperpersonalisierung als drei Perspektiven derselben Bewegung: Formen, die unser Handeln lenken – und es zugleich begrenzen. Wer verstehen will, warum ausgerechnet »Prävention«, »Begegnung« und »Personalisierung« zu Kipppunkten im Gesundheitsgeschehen werden, findet in diesem Beitrag erste Gelegenheiten, darüber nachzudenken. Wie beim Beispiel der sukzessiven Akzeptanz von Messengerdiensten, die große Teile unseres Kommunikationsverhaltens verändert haben, stehen wir auch in Gesundheitsfragen vor entscheidenden Jahren.
Die digitale Transformation des Gesundheitswesens wird nicht durch Technologie bestimmt, sondern durch die Art und Weise, wie wir im Rahmen unserer Lebenspraxis unterscheiden. Häufig merken wir gar nicht, was systemisch dafür sorgt, dass wir uns anpassen.
Anlässlich des EY Trend Health Day 2024 – ich war eingeladen, am 08.10.2025 nach München zu kommen – verdichten sich drei exemplarisch an diesem Tag besprochene Stoßrichtungen zu einem Kernproblem, das aus meiner Sicht bislang zu wenig Aufmerksamkeit erfährt:
Wie lässt sich Gesundheit als System beobachten, wenn sich die Beobachtungsinstanzen selbst verändern?
Diese Studie greift die drei Hauptpunkte des EY Health Trend Days 2025 auf und untersucht die drei Hauptanliegen Prävention, Automatisierung und Hyperpersonalisierung nicht als isolierte Innovationsfelder, sondern als Schauplätze fundamentaler Unterscheidungsoperationen. Was auf den ersten Blick als technologischer Fortschritt erscheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Rekonfiguration von Leitdifferenzen, die das Gesundheitssystem seit Jahrzehnten strukturieren.
I. Prävention – Vom Schutzschild zum pflegenden Garten
Prävention = [ Kontinuität {habituelle praxis, alltagsintegration, rhythmus der lebensführung} ¬ Episodizität {ereignisfixierung, reaktive logik, punktueller eingriff} ¬ Förderlich {praktiken und umwelten, die gesundheit ermöglichen} ¬ Hinderlich {praktiken und umwelten, die gesundheit behindern} ] (ƒ) ›n: Systemische Selbstkultivierung {vom episodischen krankheitsfall zur kontinuierlichen lebensführung; prävention als kulturtechnik, nicht als randständige disziplin}‹
Lara Maier betonte am EY Trend Health Day, dass die Zukunft der Medizin in der Verbindung von Innovation, Tradition und gesellschaftlichem Wandel liegt. Prävention wird durch digitale Tools, Wearables und Coaching-Formate messbar, reproduzierbar und alltäglich anschlussfähig (1). Nicht länger dominiert die Abwehrlogik eines »Schutzschilds«, sondern die kultivierende Logik der Kultivierung.
Dadurch verschiebt sich der Fokus vom punktuellen Eingriff zum Rhythmus der Lebensführung. Auf Systemebene bedeutet das: Die Unterscheidung krank ¬ gesund wird von der Unterscheidung förderlich ¬ hinderlich überlagert (2). Kooperationsmodelle zwischen Unternehmen, Kassen und Bürgern lassen sich dann nicht mehr entlang der alten Rollen Kostenträger ¬ Leistungsempfänger beschreiben, sondern als Gefüge von Ermöglichern und Nutznießern. Der ökonomische Imperativ folgt hier der kybernetischen Einsicht, dass ein reaktives System an seiner eigenen Komplexität scheitert (3). Ein Umstand, der als Kanon bereits fleißig besungen und als Problem bewundert wird. Das Gesundheitswesen ist in seiner Historizität zu komplex geworden. – Hinweis zur Perspektive: Diese Akzentverschiebungen sind aktuell rein deskriptiv, also eine analytische Beobachtungsperspektive, derzeit noch keine normative Vorgabe, auch wenn die Stimmen nach mehr Prävention immer lauter werden. Die Hoffnung liegt derzeit auf der sich entfaltenden Digitalität.
II. Automatisierung als Unterscheidungstechnologie – Begegnungstisch statt Behörde
Automatisierung = [ Automatisierbarer Routineprozess {regelhaft, wiederholbar, delegierbar, ohne unterscheidungskompetenz leistbar} ¬ Nicht‑algorithmisierbarer Begegnungsraum {situativ, sinnverstehend, entscheidungsoffen, bedarf menschlicher unterscheidung und verantwortung} ] (ƒ) ›n: Neujustierung des Menschlichen {maschine als bedingung von begegnung statt ersatz der begegnung}‹
Automatisierung bezeichnet technische Prozessausführung; Algorithmisierung die epistemische Formalisierung von Unterscheidungen, auf deren Basis automatisiert wird. Paul Burggraf fasste es zugespitzt: »Die wertvollsten Gesundheitsdaten entstehen im Alltag der Versicherten. Wer sie klug nutzt, entwickelt sich als Gesundheitsakteur vom Kostenträger zum Gesundheitscoach.« Das betraf mehr die Perspektive von Krankenkassen (4) In dieser Perspektive erhält die oft bemühte Metapher der »Behörde« einen Gegenentwurf: den »Begegnungstisch«. Automatisierung ist hier nicht Entmenschlichung, sondern Freisetzung. Je mehr die unsinnliche Wiederholung im Hintergrund verschwindet, desto sichtbarer wird vorn die Arbeit an Sinn und Entscheidung.
Aus der Distinktionslogik folgt eine Folge von Einsichten, die als zusammenhängender Gedankengang lesbar sind: Digitalisierung eröffnet Transformation, weil sie Routinen maschinenlesbar macht und dadurch Räume für Begegnung schafft. Auch finden sich dann Lücken, die der Rechner lässt. Autonomie wächst dort, wo das Automatisierbare das Nicht‑algorithmisierbare schützt; Zusammenhandeln wird zur Kernkompetenz, weil der Begegnungsraum interdisziplinär strukturiert ist; Vertrauen entsteht nicht aus Appellen, sondern aus Transparenz, Datenschutz und Cybersicherheit als praktizierter Form; und schließlich entscheidet digitale Teilhabe über Inklusion, weil Zugänglichkeit der Modus ist, in dem Begegnung überhaupt möglich wird.
Mit Norbert Wiener wurde Steuerung als Rückkopplung gedacht; die gegenwärtige digitale Kybernetik operiert in zweiter Ordnung. Sie beobachtet die Beobachtungen und gestaltet Schnittstellen, an denen diese Beobachtungen koppeln. Zudem gilt: Digitalität als Form bezeichnet den Modus der Unterscheidung und Adressierung; Digitalisierung als Prozess ebnet den Weg für die technische Umsetzbarkeit. Gesundheit wird eben nicht »digital«, aber sie wird in Formen der Digitalität beobachtbar gemacht und prozessual digitalisiert (11).
Die Automatisierung ist somit keine Bedrohung für die Menschlichkeit im Gesundheitswesen, sondern ihre Ermöglichungsbedingung. Sie wird bereits von agentischen Szenarien umworben. Was maschinell erledigt werden kann, muss nicht mehr von Menschen geleistet werden – und gerade dadurch entsteht Raum für das, was nur Menschen können: Empathie, Urteilsvermögen, situatives Verstehen. Die Maschine nimmt nicht den Platz der Begegnung ein, sie schafft ihn erst. Automatisierung bedeutet nicht Ersetzung, sondern Verschiebung: von der Routineabwicklung zur sinnstiftenden Interaktion. Der Begegnungstisch wird nicht trotz, sondern wegen der Automatisierung möglich.
Das ist die eigentliche Pointe der digitalen Transformation: Sie befreit das Menschliche, indem sie das Maschinelle auf seinen Platz verweist.
III. Hyperpersonalisierung – Individualisierung ist möglich, wenn alle mitmachen
Hyperpersonalisierung = [ Standardisierung {normierung der erhebung, interoperabilität, skalierung, algorithmische reproduzierbarkeit, qualitätssicherung} ¬ Personalisierung {individuelle signatur, abweichung, contexteinbettung, responsivität, maßgeschneiderte intervention aus mustererkennung} ] (ƒ) ›n: Selbstreferenz der Form {individualisierung ist nur via kollektiver datenaggregation erfahrbar; die form führt sich selbst vor}‹
Personalisierung wird nur möglich, indem sie sich zuvor standardisiert – die Form führt sich selbst vor.
Fabian Kurth von Bristol Myers Squibb zeigte, wie Hyperpersonalisierung durch KI und vernetzte Plattformen die Medizin revolutioniert. Daten ermöglichen präzisere Diagnosen, individuellere Therapien und präventive Interventionen (7). Die EY-Perspektive: Schon 2025 entstehen über 300 Terabyte Gesundheitsdaten pro Sekunde.
Das Paradox der Hyperpersonalisierung lässt sich so lesen: Je individueller die Intervention, desto strenger der Standard ihrer Ermöglichung. Der persönliche Well‑Being‑Coach ist nur deshalb möglich, weil Millionen von Datenpunkten in ein Muster überführt werden, das hinreichend stabil ist, um Abweichung als Abweichung zu erkennen (8). In der Praxis koppelt sich hier Co‑Creation. Patient, Ärztin und System operieren nicht entlang derselben, sondern aufeinander einwirkender Unterscheidungen. Subjektives Erleben trifft auf objektive Messung, klinische Evidenz auf individuelle Situation, Regelfall auf Ausnahme. Das war eigentlich immer schon so. Jetzt allerdings treten die Daten als Projektionsfläche hinzu. Die vermittelnde Instanz wird zur Schnittstelle dieser Beobachtungen – nicht zu ihrer Harmonisierung, sondern zu ihrer produktiven Reibung (9). Zugleich bleiben Risiken. Messung verändert Verhalten, und zwar anders, als wir es antizipieren. Die Logik lebenslanger, personalisierter Interventionen verlagert Verantwortung in den Alltag und kann überformen; algorithmische Vorurteile verstetigen Exklusion, wenn das Normale unbefragt bleibt; Bildung und Aufklärung werden so zur Bedingung von Teilhabe, nicht zu ihrem Bonus (10).
Synthese: Die drei Stoßrichtungen als System von Unterscheidungen
Die drei Stoßrichtungen – Prävention, Automatisierung, Hyperpersonalisierung – markieren Verschiebungen entlang von Zeitlichkeit, Arbeitsteilung und Adressierung: von episodisch zu kontinuierlich, von manuell zu algorithmisch, von kollektiv zu individuell. Gemeinsame Voraussetzung ist die kontinuierliche Erhebung, Verarbeitung und Rückkopplung von Daten. Daraus entsteht kein technischer Apparat, sondern ein kybernetischer Regelkreis, in dem Formen der Unterscheidung das Gesundheitsgeschehen steuern. Die Frage ist nicht, ob diese Transformation stattfindet, sondern wie wir die zugrundeliegenden Unterscheidungen gestalten (11).
Ausblick: Gesundheit als Unterscheidungspraxis
Gesundheit wird nicht digital. Aber Gesundheit wird zunehmend durch Distinktionen konstituiert, die eine analog strukturierte in eine digital‑kybernetische Ordnung überführen. Die Aufgabe besteht darin, diese Unterscheidungen sichtbar zu halten, ohne ihre Gegenseiten zu tilgen. Der »pflegende Garten«, der »Begegnungstisch« und der »Well‑Being‑Coach« sind keine bloßen Bilder, sondern Formen, in denen sich neue Leitdifferenzen sedimentieren. Wer sie gestalten will, muss ihre Gegenseiten mitdenken: Technologie ist Lösung und Problem, Effizienz Gewinn und Verlust, Personalisierung Ermächtigung und Kontrolle. Gelingen wird die Transformation dort, wo wir lernen, mit diesen Paradoxien zu arbeiten – nicht, wo wir sie durch Fortschrittsrhetorik zudecken (12).
Literaturverzeichnis (alphabetisch)
Maier, Lara: Mündlicher Beitrag, EY Trend Health Day 2024, unveröffentlicht. (1) Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984. (2)
Stratmann, Frank: »Gesundheit wird nicht digital – Plädoyer für eine kulturpragmatische Perspektive«, Speakers Corner EY Trend Health Day, Oktober 2024. (3)
Burggraf, Paul: Mündlicher Beitrag, EY Trend Health Day 2024, unveröffentlicht. (4)
Gabriel, Markus: Der Neue Realismus, Berlin 2014. (5) Spencer-Brown, George: Laws of Form, New York 1969. (6)
Kurth, Fabian: Mündlicher Beitrag, EY Trend Health Day 2024, unveröffentlicht. (7)
Nassehi, Armin: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019. (8) Baecker, Dirk: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt, Leipzig 2018. (9) O'Neil, Cathy: Weapons of Math Destruction. How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy, New York 2016. (10) Wiener, Norbert: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge (MA) 1948. (11) Stratmann, Frank: »Distinktionsanalyse als Methode kulturpragmatischer Intervention«, BETABLOGR.de, 2024. (12)
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