CRITICAL-Cycle
Grundlage
Onboarding
Begriffsarbeit
Cultural Strategic Foresight
Präzise Begriffsdefinitionen sind entscheidend für den Cultural Foresight Prozess. Der Unterschied zwischen Patientenorientierung und Patientenzentrierung hat weitreichende Implikationen im Gesundheitswesen, insbesondere bei der Einführung digitaler Gesundheitsanwendungen, wo eine falsche Verantwortungsverschiebung auf den Patienten problematisch sein kann.
Verfasst von: Frank Stratmann
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Update vom 10.07.2025
Die Begriffsklärung ist ein unverzichtbares Fundament für jeden Cultural Foresight Prozess. Präzise definierte Begriffe sind die Voraussetzung für eine gemeinsame Verständigungsbasis und tiefgreifende Analysen.
Begriffsarbeit ist eine Querschnittsaufgabe, die zu Beginn des Prozesses eine grundlegende Bedeutung einnimmt und uns dann kontinuierlich in den Beratungen begleitet.
Die Sprache als Zugang zur Wirklichkeit
Die Sprache ist unser primäres Medium, durch das wir die Wirklichkeit erschließen und vermitteln. Sie ist nicht nur ein Werkzeug der Kommunikation, sondern auch ein Instrument der Erkenntnis und Wirklichkeitskonstruktion.
Wenn wir über die Welt sprechen, erzeugen wir eine sprachliche Repräsentation subjektiver Wirklichkeiten. Diese Repräsentation ist nie neutral oder objektiv, sondern immer geprägt von kulturellen, historischen und individuellen Faktoren. Das rechtfertigt keinesfalls, dass sich unterschiedliche Perspektiven nicht harmonisieren sollten. Unsere Begriffe, Metaphern und sprachlichen Kategorien strukturieren unsere Wahrnehmung und unser Denken und letztlich unsere Interpretation von Werten.
Werte sind das, was für Menschen als Menschen gilt.
In der Praxis bedeutet dies: Unterschiedliche Begriffsdefinitionen führen zu unterschiedlichen Wirklichkeitsauffassungen. Wenn im Gesundheitswesen von »Patientenzentrierung« statt »Patientenorientierung« gesprochen wird, entsteht dadurch eine andere Realität mit anderen Verantwortlichkeiten und Erwartungen.
Die Herausforderung bei divergierenden Perspektiven liegt darin, dass jeder Akteur in seiner eigenen sprachlich vermittelten Wirklichkeit lebt. Eine Annäherung der Perspektiven wird möglich, wenn wir:
Explizite Begriffsklärungen vornehmen und gemeinsame Definitionen aushandeln.
Die impliziten Annahmen hinter unseren Begriffen offenlegen.
Anerkennen, dass sprachliche Differenzen keine bloßen Semantikprobleme sind, sondern substanzielle Unterschiede im Wirklichkeitsverständnis darstellen
Einen dialogischen Prozess etablieren, in dem verschiedene sprachliche Weltbilder respektvoll ausgetauscht werden können
Im Cultural Foresight Prozess ist diese sprachliche Dimension besonders relevant, da wir mit Begriffen operieren, die Zukunftsszenarien beschreiben und damit potenzielle Wirklichkeiten antizipieren sollen. Die Bewusstmachung der wirklichkeitskonstruierenden Kraft der Sprache ist daher ein wesentlicher Bestandteil der methodischen Reflexion.
Mit Wirklichkeitskonstruktion ist übrigens nicht das Pippi-Langstrumpf-Prinzip gemeint. Die Welt, wie sie uns gefällt, lässt sich nicht herbeireden und bleibt eine Illusion, wenn wir vermeiden, die Wirklichkeiten erkennen zu wollen.
Beispiel: Patientenzentrierung versus Patientenorientierung im Kontext digitaler Gesundheitsanwendungen
Gehen wir auf das oben genannte Beispiel ein. Die Begriffe »Patientenzentrierung« und »Patientenorientierung« werden im Gesundheitswesen oft synonym verwendet, verbergen jedoch fundamentale konzeptionelle Unterschiede mit weitreichenden Implikationen.
Patientenorientierung berücksichtigt den epistemischen Stand des Patienten und erkennt an, dass dieser über ein spezifisches Wissen zu seinem eigenen Körper und seinen Erfahrungen verfügt. Gleichzeitig wird das Fachwissen der medizinischen Profession nicht negiert, sondern als komplementär betrachtet.
Ein patientenorientiertes Vorgehen bei der Einführung einer Diabetes-Management-App würde beispielsweise:
Die App als ergänzendes Werkzeug im Kontext einer umfassenden Behandlung positionieren.
Die Verantwortung für die Therapie weiterhin in einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient verorten.
Die Expertise beider Seiten wertschätzen – das Erfahrungswissen des Patienten ebenso wie das medizinische Fachwissen.
Realistische Erwartungen an die Selbstmanagement-Fähigkeiten des Patienten stellen.
Patientenzentrierung hingegen stellt den Patienten in den Mittelpunkt und kann – trotz wohlmeinender Intention – problematische Verantwortungsverschiebungen bewirken. Unter dem Deckmantel der »Ermächtigung« (Empowerment) findet häufig eine Übertragung von Verantwortung auf den Patienten statt.
Bei einem patientenzentrierten Ansatz zur selben Diabetes-App könnten folgende Probleme auftreten:
Die App wird als primäres Behandlungsinstrument dargestellt, das den Patienten »befähigt«, seine Gesundheit selbst zu managen
Die Verantwortung für das Therapieergebnis wird implizit auf den Patienten übertragen – Misserfolge werden zur Frage mangelnder Compliance oder Motivation
Die Komplexität medizinischer Entscheidungen wird unterschätzt, indem suggeriert wird, dass datenbasierte Algorithmen ärztliche Expertise ersetzen können
Strukturelle Gesundheitsprobleme werden individualisiert, anstatt sie als gesellschaftliche Herausforderungen zu begreifen
Diese begriffliche Unterscheidung ist besonders relevant im Kontext der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Die zunehmende Verfügbarkeit von Gesundheits-Apps, Wearables und Telemedizin eröffnet einerseits neue Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Gesundheitsmanagement, birgt aber andererseits die Gefahr einer subtilen Verantwortungsverlagerung, bei der strukturelle Defizite des Gesundheitssystems durch eine erhöhte Eigenverantwortung der Patienten kompensiert werden sollen.
Ergo
In einer nicht nur scheinbar komplexer werdenden Umgebung gewinnt die sorgfältige Begriffsarbeit zunehmend an Bedeutung, da sie nicht nur Klarheit in der Kommunikation schafft, sondern auch die Grundlage für fundierte strategische Entscheidungen bildet und vor unbeabsichtigten Konsequenzen schützt, die aus begrifflichen Unschärfen resultieren können.
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