Die DMEA 2025 zeigt technikzentrierte Rituale, während der echte Diskurs über Werte und Gerechtigkeit fehlt.
»Deliberate Culture, before translating complexity into technology«
Einleitung
Die DMEA 2025 – Europas führende Messe und Kongress für digitale Gesundheit – fand vom 8. bis 10. April in Berlin statt. Über 800 Ausstellende und rund 18.600 Teilnehmende kamen zusammen, um die neuesten Entwicklungen der digitalen Gesundheitsversorgung zu erleben →. Auf zahlreichen Bühnen präsentierten rund 300 Sprecher in Hunderten Sessions, Roundtables und Diskussionen Themen wie Künstliche Intelligenz (KI) im Gesundheitswesen, personalisierte Medizin, die elektronische Patientenakte (ePA) im Versorgungsalltag und die Zukunft der Interoperabilität.
Die offizielle Tonalität der Veranstaltung versprach Innovation, Insight und Networking für die digitale Zukunft der Medizin. Doch drängt sich bei kritischer Betrachtung der Eindruck auf, dass es sich vielfach um technikzentrierte Rituale handelt, die als Diskurs ausgegeben werden – primär wiederum Marketing-Shows und Schaubild-Kommunikation sind.
Dieses Essay untersucht diese These im Lichte der Diskursethik nach Habermas sowie der Prinzipien deliberativer Wertekommunikation und Gemeinwohlorientierung. Dabei wird deutlich, dass Begriffe wie »Digital Health« oder »Elektronische Patientenakte« kulturell nicht ausreichend reflektiert werden. Es hat sich eine dysfunktionale digitale Kultur herausgebildet, die Abstraktes nicht anschaulich macht: Anstatt Menschen in ihrer Diversität zu verbinden, verbinden sich vor allem Begriffe und Prozesse. Auch John Rawls’ Perspektive der Gesundheitsgerechtigkeit (health equity) liefert einen Maßstab: Werden die digitalen Innovationen gerecht verteilt und dem Gemeinwohl dienlich sein?
DMEA 2025: Innovationsschau oder echter Diskurs?
Die DMEA (früher als conhIT bekannt) hat sich zu einem Pflichttermin für alle entwickelt, die an der digitalen Transformation des Gesundheitswesens arbeiten. Jahr für Jahr werden hier die »neuesten Trends und Technologien« präsentiert – eine Art gemeinsames Ritual der Branche. Gesundheit »heißt jetzt wieder E-Health«, wie ein augenzwinkernder Kommentar der PKV feststellt →. Tatsächlich stand 2025 die Messe laut Veranstaltern ganz im Zeichen der elektronischen Patientenakte und der KI, womit sie neue Maßstäbe setzen wolle. Solche Ankündigungen klingen ambitioniert: Die Messe verspricht gleichsam, die Zukunft herbeizuführen.
Doch wie viel echter Diskurs steckt hinter dieser Inszenierung? Zwar gibt es auf dem Kongressprogramm zahllose Vorträge, Podien und »Networking« -Events, doch der Charakter ist überwiegend top-down: Firmen und Institutionen verkünden ihre Lösungen, Minister halten Keynotes, Sponsoren prägen das Programm. Die DMEA ist wirtschaftlich orientiert – namhafte IT-Firmen (z. B. CompuGroup Medical, Dedalus, Telekom Health) als Gold- oder Industriepartner unterstreichen den Marketing-Aspekt →. So wird einerseits ein reger Austausch suggeriert, andererseits bleiben kritische oder unabhängige Stimmen rar. Ein unverzichtbarer Treffpunkt ist die Messe in der Tat (→), doch vor allem für Brancheninsider, um ihre Produkte und Visionen zu platzieren. Hier zeigt sich, was Jürgen Habermas als verzerrte Kommunikation bezeichnen würde: nicht alle Betroffenen (etwa Patient:innen, Pflegekräfte, Ärzt:innen aus der Basis) haben gleiche Chancen, die Debatte mitzugestalten. Stattdessen dominieren jene mit Marketingbudgets und Bühnenpräsenz.
Die Vielzahl an Schaubildern und PowerPoint-Präsentationen unterstreicht diesen Charakter. Visuelle Schlagworte – von »Digital Health« bis »Smart Healthcare« – erzeugen den Eindruck von Modernität, oft ohne tiefergehende Erörterung. Was als inhaltlicher Austausch firmiert, gerät so zum Ritual: Man zeigt einander technologische Kunststücke, applaudiert zu den neuesten Buzzwords und geht mit vollgepackten Goodie-Bags nach Hause. Ein wirklich deliberativer Diskurs im Sinne eines gemeinsamen, ergebnisoffenen Beratens über Werte, Bedürfnisse und Ziele findet nur begrenzt statt.
Technikzentrierte Rituale: Wenn Marketing als Diskurs erscheint
Die DMEA 2025 bot zweifellos beeindruckende Einblicke in digitale Lösungen. Zahlreiche Stände luden zur Anschauung ein, und in den Hallen konnte man futuristisch wirkende Repräsentationen bestaunen → →. KI-gestützte Diagnostik, Assistenzroboter und vernetzte Datenräume waren prominente Beispiele. So präsentierten etwa acht Fraunhofer-Institute gemeinsam am Messestand realitätsnahe Szenarien, wie KI und Robotik den Klinikalltag erleichtern könnten → →.
Viele dieser Exponate und Demos vermittelten einen Hauch von Zukunft: Ein leuchtendes Cloud-Symbol mit Roboter-Icon stand beispielhaft für die Vision vernetzter Gesundheitsdaten und KI-Assistenz. Besucher konnten etwa erleben, wie »vertrauenswürdige KI-Modelle« medizinische Entscheidungen transparenter machen sollen →, oder wie ein multifunktionaler Pflegeroboter Routineaufgaben übernimmt →. Diese sinnlich erfahrbaren Technologien sind faszinierend und zeigen das Innovationspotenzial – allerdings stellen sie auch eine perfekte Bühne für Marketing dar. Jeder Aussteller betont natürlich die Vorzüge der eigenen Lösung: Fraunhofer etwa sieht sich als »key point of contact for pioneering technologies« →, Medatixx bewirbt sich als Vorreiter für die ePA-Integration in Praxissoftware →, und diverse Start-ups versprechen Revolutionen von der Telemedizin bis zur Allergiebehandlung →. In diesem Umfeld verschwimmen die Grenzen zwischen sachlicher Diskussion und Werbeveranstaltung.
Habermas’ Diskursethik fordert, dass Argumente allein durch die bessere Einsicht überzeugen, nicht durch Macht oder PR-Strategie. Auf der DMEA hingegen ist die Präsentation glatt choreografiert: Professionelle Messe-Teams sorgen dafür, dass die Botschaften ankommen. Es entsteht ein kommunikatives Ritual, bei dem die bekannten Begriffe im vorgegebenen Rahmen genutzt werden – Interoperabilität, KI, Patient Empowerment. Es wird zustimmend genickt.
Kritische Nachfragen oder grundsätzliche Wertedebatten bleiben selten und wenn, dann finden sie oft am Rande oder im informellen Gespräch statt, nicht auf der großen Bühne.
Kurz gesagt: Die Technik selbst wird zum Star der Show. Menschen vor den Bildschirmen und Installationen treten in den Hintergrund – metaphorisch wie buchstäblich. Damit droht der Diskurs zur bloßen Staffage zu verkommen.
Abstrakte Begriffe ohne kulturelle Verankerung
Ein zentrales Problem hierbei ist die fehlende kulturelle Reflexion der Buzzwords. Begriffe wie »Elektronische Patientenakte (ePA)« oder das Framing »Digital Health« werden in den Messehallen wie selbstverständlich verwendet, als wären sich alle über deren Bedeutung und Implikationen einig. Doch außerhalb der Fach-Community fehlt oft das Verständnis und die Akzeptanz.
Man mag einwenden, dass die DMEA eine Fachmesse ist. Geschenkt. Doch sobald das Expertenwissen die Szene verlässt, erkennt man den kulturellen Bruch.
Gerade die ePA ist ein Paradebeispiel: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nannte sie in seiner DMEA-Eröffnungsrede eine »Erfolgsgeschichte« und das größte Digitalisierungsprojekt im Gesundheitswesen →. Bereits jetzt bringe die ePA großen Nutzen für Behandelnde und Patienten, so Lauterbach, etwa durch einfachere Abrechnung und übersichtlichere Befund-Dokumentation →. Diese Darstellung ist im Kontext der Messe nicht überraschend optimistisch – sie soll Zuversicht vermitteln. Aber spiegelt sie die Realität wider?
Noch am selben Tag wurde deutlich, dass der bundesweite Roll-out der ePA weiter nur zögerlich erfolgt. Lauterbach musste einräumen, dass es vorerst keinen konkreten Starttermin gibt, sondern lediglich eine »Hochlaufphase« in den kommenden Wochen geplant ist →. Die Nutzung durch Ärzte soll zunächst freiwillig bleiben, anstatt wie ursprünglich vorgesehen ab April verpflichtend zu sein →. Diese Kehrtwende – man wolle niemanden »bestrafen, wenn etwas nicht funktioniert, was man nicht kontrollieren kann« → – zeigt die Diskrepanz zwischen Abstraktion und Wirklichkeit.
Auf der Bühne wird die ePA als fertig und segensreich gefeiert, hinter den Kulissen jedoch kämpft man mit grundlegenden funktionalen Hürden.
Die Kultur der Gesundheitsversorgung in Deutschland hat die ePA noch längst nicht verinnerlicht. Viele Ärztinnen und Ärzte stehen ihr zurückhaltend gegenüber, teils wegen zusätzlicher Dokumentationslast, teils aus Sorge um den Datenschutz. Patient:innen wiederum wissen oft wenig darüber; die ePA ist (noch) kein Teil ihres Alltagsverständnisses von Gesundheitsversorgung. Vielleicht braucht es hier mehr Geduld. Wie viel Geduld verträgt die Gesundheitsgesellschaft nach über 20 Jahren Technologiedesaster?
In diesem Sinne ist eine »nicht funktionale digitale Gesundheitskultur« entstanden: Man hat technische Strukturen geschaffen, aber im Praxisalltag bleiben sie großteils ungenutzt – die Kultur hat nicht Schritt gehalten. Die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands kritisierte auf der Messe, Lauterbachs Ankündigungen seien »ambitionslos« und widersprechen der viel beschworenen Aufholjagd bei der Gesundheits-IT →. Der Verband der Ortskrankenkassen fordert verbindlichere Vorgaben, da freiwillige Nutzung kaum zum Ziel führe, und wies darauf hin, dass es weiterhin hakt – beispielsweise bei der Anbindung der ePA an die verschiedenen Praxisverwaltungssysteme →. Offen wird eingeräumt, dass erst mit der flächendeckenden Befüllung aller ~70 Millionen Patientenakten die Mehrwerte wirklich spürbar werden →. Je früher diese Vorteile in der Praxis tatsächlich spürbar werden, desto besser – denn bei der Digitalisierung haben wir im internationalen Vergleich eine Menge aufzuholen, so der Appell →. Hier schimmert durch: Noch sind die versprochenen Vorteile für Bürger und Basispersonal sehr abstrakt.
Ähnlich verhält es sich mit dem Modewort »Digital Health« selbst. Es wird breit als Synonym für Fortschritt verwendet, doch was es kulturell bedeutet, bleibt diffus. Wie sollte Gesundheit als Phase des Gelingens des Daseins digitaler werden? Oder bedeutet es, dass Arztbesuche per se digitaler werden? Dass jeder seine Gesundheits-Apps nutzt? Oder dass Daten eher zählen als das persönliche Gespräch? Diese Fragen werden selten explizit gestellt. Stattdessen verbinden sich meist nur die Begriffe und Prozesse untereinander: ePA mit E-Rezept, Telematik-Infrastruktur mit Gesundheits-Apps, Interoperabilitätsstandards mit Datenschutz-Gesetzen. Diese Systemwelt der Begriffe spricht aber nicht automatisch die Lebenswelt der Menschen an. Anstatt Menschen wirklich zu verbinden, verbinden sich erst einmal nur IT-Systeme. So listete der Stand des PKV-Verbands auf der DMEA Kontaktpersonen für diverse Digital-Projekte – von ePA über digitale Identitäten und TI-Messenger bis zur elektronischen Pflegeübermittlung →. Das, was eine Kultur des Digitalen verlangt, bleibt außen vor. Die Aufzählung macht außerdem deutlich: Ein ganzes Sammelsurium von Projekten und Akronymen soll irgendwie zusammenspielen.
Die Kommunikation bleibt im Abstrakten hängen, weil sie versäumt, die Brücke zur Anschauung und zum gelebten Alltag zu bauen.
Eine kulturell adäquate Reflexion würde bedeuten: Wir diskutieren, wie wir als Gesellschaft Gesundheit digital unterstützen wollen, welche Werte (z. B. Privatsphäre, Autonomie, Zugang für alle) Priorität haben und wo die Grenzen des Technikeinsatzes liegen. Auf Veranstaltungen wie der DMEA erscheinen solche Grundsatzfragen zweitrangig. Die Dynamik des Events begünstigt eher das Feiern von technischer Machbarkeit als das Innehalten und Fragen: Was heißt das für uns Menschen?
Diskursethik: Fehlt der deliberative Werte-Dialog?
Jürgen Habermas’ Diskursethik liefert einen normativen Maßstab, an dem man den Kommunikationscharakter der DMEA messen kann. Gemäß Habermas sollten alle von einer Entscheidung oder einem Thema Betroffenen die Möglichkeit haben, an einem herrschaftsfreien Diskurs teilzunehmen, in dem die besten Argumente – nicht die lautesten Stimmen – zählen. Idealerweise würden in einem solchen Diskurs im Gesundheitswesen Ärzte, Pflegende, Patienten, IT-Experten, Ethiker, Versicherer und Politiker auf Augenhöhe darüber beraten, welche digitalen Lösungen wirklich sinnvoll, akzeptabel und dem Gemeinwohl dienlich sind.
Auf der DMEA jedoch ist dieser deliberative Wertekommunikationsprozess nur rudimentär vorhanden. Zwar werden in Panels auch kontroverse Themen angesprochen – etwa IT-Sicherheit, Datenschutz oder Akzeptanzprobleme – doch die Struktur bleibt zumeist frontal und zeitlich begrenzt. Eine echte, ergebnisoffene Wertediskussion findet eher am Rande statt (beispielsweise in kleinen Workshop-Sessions oder hinter den Kulissen im Dialog zwischen einzelnen Akteuren). Das Gros der Kommunikation folgt dem Muster von Präsentation und anschließender kurzer Fragerunde, was kaum Raum für gemeinsamen Reflexionsprozess lässt.
Tatsächlich würde die Art von Diskurs und Reflexion, wie sie etwa auf der re:publica stattfindet, der DMEA guttun. Interdisziplinäre Perspektiven, mehr zivilgesellschaftliche Beteiligung, eine kritischere Auseinandersetzung mit Digitalisierungsfolgen; das wäre hilfreich.
Zudem sind nicht alle relevanten Stimmen präsent: Patientenvertretungen oder kritische Bürgerinitiativen zur Digitalisierung sucht man im Hauptprogramm vergebens. Die Diskursethik würde jedoch fordern, dass insbesondere die Perspektiven derjenigen Gehör finden, die die Maßnahmen am Ende erleiden oder tragen müssen – etwa ältere Menschen mit wenig Technikaffinität, chronisch Kranke mit besonderem Datenschutzbedürfnis, oder Pflegekräfte, die den digitalen Dokumentationsmehraufwand stemmen sollen. Ihre Lebensrealität und Werte müssten Teil der Verhandlungen sein, um zu legitimen Lösungen zu kommen.
Richtig ist, dass es insbesondere im Segment der Start-ups nach wie vor Patientinnen und Patienten gibt, die sich aufmachen, eine Lösung zu finden. Doch auch das ist meistens geprägt von der Brille, die Betroffene in diesem Fall aufhaben.
Stattdessen dominiert eine expertenzentrierte Kommunikation. Diese ist zwar fachlich hochwertig, aber neigt dazu, implizite Wertannahmen nicht offenzulegen: Zum Beispiel, dass technischer Fortschritt per se gut sei (Technikoptimismus), oder Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen vorrangig sei. Solche Prämissen müssten in einem ethischen Diskurs erst gerechtfertigt werden. Auf der Messe werden sie jedoch meist vorausgesetzt. So entsteht ein Diskursraum, der nur scheinbar neutral-sachlich ist, tatsächlich aber von gewissen Interessen und Narrativen strukturiert wird (Hersteller wollen verkaufen; die Politik will Erfolge verkünden; die Administration will Implementierungspläne rechtfertigen).
Ein weiteres Element der Diskursethik ist die Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit der Kommunikation. Viele technische Fachbegriffe erschweren jedoch Außenstehenden das Verständnis. Ein Habermas’scher Diskurs würde verlangen, komplexe Sachverhalte so zu übersetzen, dass sie allgemein diskutierbar werden. Die DMEA-Kommunikation leistet dies nur bedingt, da sie primär auf ein Fachpublikum zielt und oft in deren Jargon verbleibt.
Hier zeigt sich das Motto dieses Essays in anderer Form: Erst deliberieren – dann in Technik übersetzen. In der Realität passiert es oft umgekehrt: Es wird etwas technisch umgesetzt und dann versucht, es nachträglich zu legitimieren.
Dennoch gibt es Ansätze eines Werte-Dialogs: In mancher Diskussionsrunde wurden Fragen der Datensouveränität oder ethischen KI erörtert. Beispielsweise stellt die Fraunhofer-Präsenz auf der Messe das Thema Vertrauenswürdigkeit von KI explizit heraus →, was impliziert, dass man Skepsis und ethische Anforderungen ernst nimmt. Solche Beiträge können Keimzellen eines Diskurses sein, benötigen aber eine breitere Plattform und Anschlussfähigkeit über die Messe hinaus.
Die DMEA könnte stärker ein Ort deliberativer Kommunikation sein, wenn sie Formate schafft, in denen unterschiedliche Stakeholder gleichberechtigt und ausführlich über Werte und Ziele digitaler Gesundheitspolitik debattieren. Aktuell überlagern die ritualisierten Produkt- und Projektpräsentationen diese Möglichkeit.
Gemeinwohlorientierung und Gesundheitsgerechtigkeit
Eine wichtige Dimension, die in der technikverliebten Atmosphäre oft untergeht, ist die Frage nach der Gemeinwohlorientierung: Kommt der digitale Fortschritt allen zugute? Oder profitieren nur bestimmte Gruppen? Hier lohnt ein Blick durch die Brille von John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie, insbesondere auf Gesundheitsgerechtigkeit (health equity).
Rawls’ Prinzipien der Gerechtigkeit betonen Fairness in der Verteilung von Gütern und Chancen, nicht unbedingt absolute Gleichheit → →. Übertragen auf das Gesundheitswesen bedeutet das: digitale Innovationen sollten so gestaltet sein, dass sie die Situation der am schlechtesten Gestellten verbessern oder zumindest niemanden ausschließen. Jede Ungleichheit in der Versorgung müsste gerechtfertigt sein, etwa indem sie das Gesamtwohl verbessert und insbesondere den Bedürftigsten nutzt.
Die Realität der digitalen Gesundheitsangebote sieht jedoch bislang anders aus. Studien zeigen, dass vor allem jüngere, gut gebildete und einkommensstärkere Menschen E-Health-Angebote nutzen, während Ältere oder sozial Benachteiligte deutlich seltener davon Gebrauch machen →. Bislang gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass digitale Gesundheitsangebote die gesundheitliche Ungleichheit verringern – im Gegenteil, es besteht die Gefahr einer Digital Divide: Menschen ohne ausreichende digitale Kompetenz oder Zugang könnten weiter zurückfallen. So haben z. B. viele ältere Patienten weder die technischen Mittel noch die Fähigkeiten, eine ePA oder Gesundheits-App effektiv zu nutzen. Wenn Arztpraxen zudem extra Aufwand haben, die digitalen Dienste parallel zum analogen Betrieb zu handhaben, drohen Engpässe, von denen wiederum eher die digital Unkundigen betroffen sind (etwa längere Wartezeiten, weil Prozesse doppelt laufen).
Das alles erinnert ein wenig an die ausschließlich online verfügbaren Sparpreise der Deutschen Bahn (DB). Wer pfiffig ist, früh genug buchen kann, weil er über die nötigen Mittel verfügt, kommt in den Genuss von Vorteilen. Weniger medienkompetenten oder solventen Menschen bleiben diese Vorteile verwehrt.
Aus Rawls’scher Sicht müsste eine gemeinwohlorientierte Digitalstrategie gerade diese Punkte adressieren. Die DMEA als Branchentreffen könnte Impulse setzen, wie Health Equity by Design erreicht werden kann. Etwa: Wie gestalten wir die ePA so, dass auch Menschen mit Behinderungen oder ohne Smartphone sie nutzen können? Wie stellen wir sicher, dass ländliche Regionen mit schlechter Internetversorgung nicht abgehängt werden, wenn Telemedizin Standard wird? Solche Fragen sind freilich weniger glamourös als eine KI-Demo, aber für die Legitimation des digitalen Umbaus zentral.
Auf der Messe wurden punktuell auch gemeinwohlrelevante Initiativen präsentiert. So etwa Projekte für die Versorgung ländlicher Räume durch Telemedizin-Netzwerke → oder Apps, die mehrsprachig nutzbar sind, um Sprachbarrieren zu überwinden →. Diese Ansätze zeigen ein Bewusstsein dafür, dass die Diversität der Menschen einbezogen werden muss. Allerdings blieben solche Themen eher in Nischen (z. B. am Gemeinschaftsstand eines Bundeslandes, wie Mecklenburg-Vorpommern, das gezielt auf gleichwertige Versorgung abzielt. Im Hauptprogramm dominierte weiterhin die Perspektive der großen Player und generellen Infrastrukturprojekte.
Eine gemeinwohlorientierte Ausrichtung würde erfordern, dass Erfolg nicht nur in Technologie-Maßstäben gemessen wird (z. B. Anzahl angeschlossener Arztpraxen an die TI), sondern in Gesundheits- und Gerechtigkeits-Maßstäben: Verbesserung von Versorgungsergebnissen, Patientenzufriedenheit, Abbau von Zugangsbarrieren. Bundesminister Lauterbach betonte in seiner Keynote, Digitalisierung könne zentrale Probleme lösen und Kosten senken, etwa durch KI-gestützte schnellere Behandlungen oder Entlastung beim Dokumentieren →. Hier schwingt der Gemeinwohlnutzen mit – effizientere, bessere Medizin für alle. Doch ob diese Versprechen eintreten, hängt von der praktischen Umsetzung ab. Nur wenn digitale Angebote von der Breite angenommen werden und niemanden zurücklassen, erfüllen sie den Anspruch der Gesundheitsgerechtigkeit.
Rawls würde fragen: Würden wir die jetzigen Digitalstrategien auch dann wählen, wenn wir nicht wüssten, welche Position – jung oder alt, gesund oder krank, technikaffin oder -fremd – wir in der Gesellschaft einnehmen? Wenn nein, müssen sie angepasst werden. Derzeit scheint es, als würde ein gut informierter Rawls’scher »Urzustands“-Bürger manches anders designen: Etwa mehr in digitale Gesundheitskompetenz investieren, bevor er ePA & Co. ausrollt, damit alle die Chance haben, kompetent teilzunehmen. Oder klare Regeln einziehen, dass Technologie den zwischenmenschlichen Aspekt nicht verdrängt, damit auch weniger technikorientierte Menschen weiterhin qualitativ gute Betreuung erhalten.
Kurzum: Die Orientierung am Gemeinwohl erfordert einen inklusiven Blick und gegebenenfalls die Korrektur des Kurses, wenn dieser primär die ohnehin Privilegierten begünstigt. Auf der DMEA 2025 war dieses Thema eher Subtext als Überschrift. Aber um eine funktionierende digitale Kultur zu schaffen, muss es zentral werden.
Fazit: Kultur vor Technik – eine neue digitale Gesundheitskultur etablieren
Die kritische Analyse der DMEA 2025 legt offen, dass im aktuellen Diskurs über Digital Health ein Ungleichgewicht besteht. Technikzentrierte Rituale werden als Fortschrittsnarrative inszeniert, während die gesellschaftliche Deliberation über Werte, Kultur und Gerechtigkeit hintansteht. Begriffe und Prozesse vernetzen sich scheinbar mühelos, doch die Menschen – ob Nutzer, Leistungserbringer oder Betroffene – bleiben dabei mitunter außen vor. Damit das digitale Gesundheitswesen sein Versprechen einlöst, braucht es eine bewusste kulturelle Auseinandersetzung, bevor komplexe Realitäten vorschnell in Technik »übersetzt« werden.
Der englische Leitsatz »Deliberate Culture, before translating complexity into technology« bringt es prägnant auf den Punkt: Wir müssen zuerst einen gemeinsamen kulturellen Nenner finden – was wollen wir im Gesundheitswesen bewahren, was verbessern, welche Werte leiten uns? – ehe wir diese Vorstellungen in technische Systeme gießen. Eine solche diskursethische Wende würde bedeuten, Messen wie die DMEA nicht nur als Schaufenster für Lösungen zu nutzen, sondern als Marktplatz der Ideen, auf dem auch kontroverse Fragen und gesellschaftliche Anliegen verhandelt werden.
Es gilt, die abstrakten Visionen anschaulich und greifbar zu machen: durch Pilotprojekte, in denen Patienten und Ärzte die ePA gemeinsam erproben; durch öffentliche Foren, in denen Nutzen und Risiken von KI in der Medizin ehrlich abgewogen werden; durch partizipative Formate, die Diversität aktiv einbinden. So kann aus dem derzeitigen, bisweilen selbstreferenziellen Diskurs eine lebendige digitale Kultur erwachsen, die von allen mitgetragen wird. Diese Kultur würde Technik als Mittel zum Zweck begreifen – der Verbesserung der menschlichen Gesundheit – und nicht als Selbstzweck. Marketingphrasen müssten sich an der Realität messen lassen; Rituale würden ersetzt durch echte Verständigung.
Die Gesundheitsbranche steht vor einer Herausforderung: Entweder verharrt sie in Ritualen, in denen jedes Jahr aufs Neue ähnliche Folien bejubelt werden, oder sie schafft den Sprung zu einem deliberativen Diskurs, der die komplexe Wirklichkeit der Versorgung in den Mittelpunkt stellt. Im Geiste von Habermas und Rawls hieße das: Jeder Schritt der Digitalisierung wird diskursiv gerechtfertigt und gerecht gestaltet. Die DMEA könnte in Zukunft ein solches Forum sein – wenn sie Mut zur Selbstreflexion beweist. Dann nämlich würden nicht nur Prozesse und Begriffe miteinander verbunden, sondern tatsächlich die Menschen in ihrer Vielfalt. Die Vision ist klar: Erst die Kultur des Gemeinsamen aushandeln, dann die Komplexität in Technologie überführen. Nur so entstehen digitale Lösungen, die mehr sind als leere Rituale – nämlich Bausteine einer gerechten, menschenzentrierten Gesundheitsversorgung.
Quellen: Die im Text mit (→) gekennzeichneten Quellen verweisen auf Pressemeldungen und Berichte rund um die DMEA 2025, u. a. Presseinformationen der Veranstalter und Verbände, Pressemitteilungen von Ausstellern (Fraunhofer, Medatixx, PKV), sowie Medienberichte (Handelsblatt, Heise, Apotheken Umschau) und Stellungnahmen (KBV, AOK). Sie belegen sowohl die Darstellungen der Messeinhalte und Aussagen offizieller Akteure als auch die kritischen Stimmen zur praktischen Umsetzung der ePA und zur Digitalstrategie im Gesundheitswesen. Beispielsweise dokumentiert Lauterbachs Keynote-Aussagen zur ePA, während die skeptische Bewertung der Krankenkassenseite aufgegriffen wird. Studienergebnisse zur Digital Divide (RKI) und Nutzung digitaler Angebote untermauern die Gerechtigkeitsanalyse. Diese Referenzen zeigen im Zusammenspiel, wie Diskrepanz zwischen anspruchsvoller Rhetorik und gelebter Realität den aktuellen Digital-Health-Diskurs prägt.