Aktualisiert

10. April 2025

Digitaler Protektionismus

Über die subtilen Formen des Schutzes von Wissen und Informationen in der digitalen Welt und deren Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung und den sozialen Diskurs

Systemische Ursache

Das Phänomen des digitalen Protektionismus beeinflusst die Bereiche der sozialen Medien und des Wissensaustauschs, indem es die Zusammenarbeit und den offenen Zugang zu Informationen verringert, während es gleichzeitig das Bedürfnis nach emotionalem Schutz und individueller Selbstdarstellung erhöht.

German

Der Text behandelt digitalen Protektionismus, soziale Produktion von Wissen und die Herausforderungen in der Wissensgesellschaft.

Wissen, das sich ohne Bedingung teilen darf, damit es überleben und wachsen, hinterfragt und weiterentwickelt werden kann, war mir stets ein Anliegen. Diese Erkenntnis hat sich gerade erst erneuert. Die ersten Gedanken zu diesem Beitrag entstehen auf dem Rückweg von Stuttgart, wo unser Barcamp DIGITALWERK die Exploration der Themen für das Werkjahr 2025 eingefahren hat.

Dabei werde ich von vielen Teilgebenden angesprochen, wie es zum Barcamp kam. In solchen Momenten kann ich nur auf die Anfänge verweisen. Das wahrscheinlich erste Barcamp im traditionellen Sinne habe ich gemeinsam mit Silke Schippmann im Werkheim in Hamburg im Frühjahr 2012 veranstaltet. Wir saßen auf Bierbänken und haben eine Suppe bestellt. Damals entstanden nicht nur Freundschaften, die bis heute halten, sondern auch die Haltung, die in den Jahren des Übergangs zwischen Web 2.0 und Social Media reifen durfte.

Wenn Wissen sich teilt, wird mehr daraus.

Der Satz hat an Gültigkeit nichts verloren. Jedoch ist mir in Stuttgart und auf der Fahrt zurück etwas klar geworden.

In der Wissensgesellschaft zeigt sich eine paradoxe Entwicklung. »Wissen ist Macht«, heißt es immer noch. Das stimmt, wenn man unter Wissen einen direkten Vorteil für Herrschaftsmodelle verstehen wollte. Das will ich aber nicht. Phrasen wie »Der Herr der Daten« oder »Freiheit der Märkte«, obwohl man damit keine freien Menschen meint, werden zunehmend langweilig und widerlegen sich selbst.

Hegemonie hingegen bezeichnet eine Form der indirekten Machtausübung, die auf Konsens und kultureller Führung basiert, statt auf direktem Zwang. Der italienische Philosoph Antonio Gramsci entwickelte dieses Konzept weiter zur kulturellen Hegemonie. Dominante gesellschaftliche Gruppen setzen ihre Weltanschauung und Werte als »natürlich« und »selbstverständlich« durch, sodass sie von anderen Gruppen freiwillig übernommen werden. Diese subtile Form der Machtausübung prägt Denkmuster, Verhaltensweisen und gesellschaftliche Normen.

Wenn die Teilgebenden nur ahnen würden, welch hegemoniales Potenzial sie aufbringen könnten.

Wäre Wissen kein rivalisierendes Gut, sollte es durch Teilung wachsen. Auf der Suche nach Inspirationen erzeugt ein Barcamp Veränderungen, die sich nicht gleich messen lassen, wie Umsatz oder andere Leistungskennzahlen. Die Nachwirkungen sind oft nicht mit dem eigentlichen Ereignis zusammenzuführen. Unterbewusst spinnen wir Gedanken weiter, kommen so zu neuen Überlegungen, überwinden Glaubenssätze und schaffen neue Werte und passen Strategien an. Der Besuch des Barcamps liegt dann schon lange hinter uns.

Soweit die Beschreibung eines Ideals, das von zahlreichen Entwicklungen heimgesucht wird. Denke ich zurück an das Frühjahr 2012, wird mir klar, wie das alles unter Druck gerät. Man kann und sollte nach noch viel mehr offenen und deliberativen Formaten wie einem Barcamp suchen. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Deshalb möchte ich gern noch einmal auf mein Angebot für ZEITGESCHENK und die Einladung für eine BRIEFFREUNDSCHAFT verweisen; nicht jedoch ohne vorher meinen eigentlichen Punkt zu machen.

Wir benötigen mehr soziale Produktion

Ich erinnere mich an einen Vortrag von Markus Gabriel aus dem Sommer 2024, den er bei dem Schweizer Institut für Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern gehalten hat. Versuchen wir einmal, den Begriff der sozialen Produktion von Diskursinhalten auf jene Renaissance des nationalen Protektionismus zu übertragen.

Etwas gehört dann zur Gesellschaft, ist dann sozial, wenn es das Produkt der wechselseitigen Abstimmung mehrerer Akteure im Hinblick auf eine Perspektivenverschiedenheit ist.

Soziale Medien versprachen, so die Hoffnung im Jahre 2012, einen gesellschaftlichen Neubeginn; mindestens hinsichtlich des Zugangs zu wichtigen Diskursen. Jeder, der das wollte, konnte sich einmischen. Mit einem Blog, ein eher autonomes soziales Medium, über Kurznachrichtendienste oder klassische soziale Netzwerke. Diejenigen, die schon seit Ende der Neunzigerjahre Sachen ins Netz stellten, fühlten sich damals zunehmend bestätigt. Ich zähle mich selbst dazu. Leider lagen wir alle falsch und hätten das damals schon erkennen können. Als Pionier genoss ich durch meine Arbeit in sozialen Medien einen Hauch von Einfluss durch die damit verbundene Präsenz. Man verstand immer besser, sich ins Gespräch zu bringen, und das kulminierte in dem Vorhaben, ein Barcamp zu veranstalten. Wir ahnten, dass sich der online begonnene Dialog nur dann Ergebnisse hervorbringt, wenn wir ihn ins Analoge verlängern.

Mehr als ein Jahrzehnt später liegen einige Veränderungen hinter uns, die den Wandel der sozialen Medien begründen.

Die Plattformen wandelten sich brutal zu Werbenetzwerken, die unsere Verhaltensüberschüsse derzeit dazu nutzen, Macht über uns zu ergreifen, die nicht an einer Diskursethik interessiert zu sein scheint, die keine inklusive Gesellschaft hinsichtlich der sozialen Produktion von Wahrheiten fördert.

In ihrem bahnbrechenden Werk entlarvt Shoshana Zuboff die verborgene Logik des Überwachungskapitalismus, einer neuen Form des Kapitalismus, die tief in unser digitales Zeitalter eingedrungen ist. Angetrieben von TEX wie Google und Facebook, werden unsere persönlichen Daten nicht mehr nur zur Verbesserung von Diensten genutzt, sondern zur Vorhersage und Steuerung unseres Verhaltens. Wir verhalten uns und das beeinflusst unser Verhalten. Verhalten möchte ich hier noch klar von begründetem Handeln unterscheiden. Das hebt die indirekte Machtausübung hervor, der wir insbesondere im Diskurs ausgesetzt sein können.

Eine zweite Veränderung liegt in der Tatsache, dass eine Pandemie den produktiven Umgang mit dem Meinen, mit dem Gemeinten im Sinne von Wahrhaftigkeit zerstört haben könnte. Temporär haben wir vielleicht die soziale Funktion von Wahrheit und deren praktische Anwendung vergessen. Um aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen wie Fake News und den Verlust des wissenschaftlichen Konsenses zu analysieren, benötigen wir neue Ansätze, die Wahrheit nicht als philosophisches Konzept, sondern als sozialen Operator verstehen.

Der dritte Aspekt ist der, dass wir aktuell immer häufiger aufgerufen werden, emotionaler zu werden. Wir sollen kommunikativ, radikal und emotional handeln. Die Antwort auf Populismus, der unsere Emotionen zu nutzen weiß, soll ein demokratischer Populismus sein. Dabei stellen wir immer häufiger fest, dass wir als Gesellschaft sensibler denn je sind. Svenja Flaßpöhler untersuchte die Dialektik der modernen Sensibilität, und mir scheint, wir müssen auch unser Vermögen für mehr Empathie aufrüsten. Die »sensible Gesellschaft« droht nach Flaßpöhlers Einschätzung, in einer Spirale der Empfindlichkeit zu ersticken, in der kein Raum mehr für kontroverse Debatten und gemeinsames Handeln bleibt. Sie plädiert daher für eine Balance zwischen Empathie und Resilienz, um die Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen, um die bevorzugten Zukünfte nicht aus den Augen zu verlieren.

Zuletzt wurde die Empathie durch Elon Musk diskreditiert. Deshalb sollten wir unsere Fähigkeit im Umgang mit Empathie erneuern. Der Philosoph Philipp Hübl machte uns schon vor der Pandemie darauf aufmerksam, dass viele unserer Emotionen im Verborgenen wirken und sich entlang von sechs moralpsychologischen Prinzipien entfalten.

Drei Facetten des digitalen Protektionismus

Dass wir uns irren können, heißt, dass wir nicht irre sind.

Der vorherige Satz stammt aus der Präambel zum Vortrag, den ich eingangs dieses Abschnitts erwähnt habe. Mit ihm bringen wir die drei Aspekte zusammen. Die passiv hingenommene Steuerung unseres medialen Verhaltens als Vorstufe überträgt sich auf unser vernunftgeleitetes Handeln, das sich wieder vermehrt instrumenteller zeigt, als uns lieb sein kann. Wahrhaftigkeit als Tugend muss stärker voraussetzen und sichtbar machen, dass der Diskurs Menschen benötigt, die an Tatsachen interessiert sind. Der Ausdruck von Emotionen ist dabei kein Ausdruck von Schwäche, sondern zwingend. Schon gar nicht, wenn wir dabei die Empathie nicht vergessen.

Meines Erachtens hat sich aus diesen drei Facetten ein digitaler Protektionismus ergeben, der sich wie folgt beschreibt:

Wir haben damit begonnen, protektionistische Praktiken aus der materiellen Welt in unsere Diskursarenen zu übertragen. Diese Übertragung materieller Logiken auf immaterielle Güter führt zu problematischen Entwicklungen.

Motiviert von den Möglichkeiten der sozialen Medien verstecken wir uns mittlerweile hinter infantilen, nicht wirklich emotionalen Schutzwällen. Darin liegt das eigentliche Missverständnis im Umgang mit sozialen Medien. Statt echte Emotionen und fundiertes Wissen zu teilen, flüchten wir uns in oberflächliche Selbstdarstellung und digitalen Eskapismus.

Der Protektionismus als wirtschaftspolitisches und gesellschaftliches Phänomen manifestiert sich in verschiedenen Dimensionen unseres Lebens. Traditionell verstanden als Schutz der heimischen Wirtschaft durch Handelsbeschränkungen, hat sich der Begriff in den immateriellen Raum des Digitalen verlagert.

Neue Formen für Wahrhaftigkeit

Die soziale Produktion von Wahrheit wird dabei häufig durch diesen falsch verstandenen Protektionismus behindert. Soziale Konstruktion hat soziale Produktion abgelöst. »Meinen ist gemein«, meint Markus Gabriel im erwähnten Vortrag am IWP. Wir sind ethisch sensibler, als wir annehmen. Wir wissen um zahlreiche Wahrheiten, wie dem Klimawandel, die überfordernde Oberflächlichkeit unserer Diskurse um Heizungsgesetze, Schuldenbremsen und andere gesellschaftliche Großwetterereignisse.

Gabriel widerlegt in Luzern die Vorstellung des Sozialkonstruktivismus, nach der soziale Tatsachen nur durch kollektive Übereinkünfte bestehen und somit verhandelbar seien. Sozialität ist Dissensmanagement. Unser Sozialität ist derzeit stark diskreditiert durch die oben angeführten Veränderungen. Soziale Medien sind nicht das Spielfeld, in dem soziale Tatsachen bloße Verhandlungsgegenstände wären. Soziale Tatsachen unterliegen genauso objektiven Bedingungen wie andere Wahrheiten. Die soziale Produktion von Wahrheit basiert auf Handlungskoordination. Gesellschaft entsteht durch die Abstimmung von Handlungen und Perspektiven und produziert eine soziale Wirklichkeit. Die Überbetonung der Sprache im Sozialkonstruktivismus vernachlässigt die materielle Wirklichkeit, da das meiste menschliche Handeln nicht sprachlicher Natur ist, sondern eine Form des haptischen Ausdrucks dessen, was wir tun. Und so schön immateriell der digitale Dialog und das Ringen um Wahrheiten daherkommen mag. Die Manifestation in handfesten Ergebnissen lässt sich kaum leugnen.

Der soziale Konstruktivismus grassiert – nicht nur aufgrund mangelnder Sorgfalt im Umgang mit Informationen. Durch vorgeschobenes Meinen hat es die Wahrheit zunehmend schwer, sozial produktiv erkannt zu werden, um emergent zu sein.

Das Ringen um Wahrheiten hat nicht zuletzt durch das, was Wissen eigentlich erzeugt, Schaden genommen. Wenn wir Informationen teilen, bringen wir uns und unsere Informationen üblicherweise in die soziale Produktion von Wissen ein. Das Teilen von Katzenbildern mag eine Tatsache sein, aber egozentrierte Verkündungen, bei denen wir uns virtuell Hasenohren aufsetzen, die unsere Smartphones uns visuell andichten, dienen nicht. Auch nicht die zur DMEA beliebten Actionfiguren.

Absurderweise ist das die Form eines neuen digitalen (immateriellen) Protektionismus, weil wir unsere Wahrheiten glauben, schützen zu müssen, verschwenden wir Zeit und Ressourcen mit Ablenkungen.

Statt Wissen abzuschotten und zu »schützen«, sollte der Fokus auf kollaborativer Erkenntnisgewinnung liegen. Der konstitutive Diskurs des Protektionismus zeigt sich hier als Hindernis für gesellschaftlichen Fortschritt. Diese Spannung zwischen offenem Wissenszugang und protektionistischen Tendenzen prägt zunehmend die gesellschaftliche Debatte. Die Herausforderung besteht darin, neue Modelle des Wissensaustauschs zu entwickeln, die sich von traditionellen protektionistischen Mustern lösen.

Frank Stratmann

Ich bin Frank Stratmann – ein erfahrener Foresight- und Kommunikationsdesigner, der mit Leidenschaft für Fachkräfte im Gesundheitswesen arbeitet.
Auch bekannt als @betablogr.

AVAILABLE FOR WORK

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Ich bin Frank Stratmann – ein erfahrener Foresight- und Kommunikationsdesigner, der mit Leidenschaft für Fachkräfte im Gesundheitswesen arbeitet.
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