Das Faxgerät bleibt trotz Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen unverzichtbar, was strukturelle Defizite offenbart.
Das Fax im deutschen Gesundheitswesen: Analyse eines persistierenden Kommunikationsstandards
Trotz jahrzehntelanger Digitalisierungsbemühungen bleibt das Faxgerät im deutschen Gesundheitswesen ein unverzichtbares Kommunikationsmittel. Aktuelle Umfragen zeigen, dass 77 % der Ärztinnen und Ärzte das Fax regelmäßig für die Übermittlung von Befunden, Laborergebnissen und Rezepten nutzen 1 2. Diese erstaunliche Persistenz einer technologisch veralteten Lösung wirft grundlegende Fragen zur strukturellen Entwicklung des Gesundheitssystems auf. Der vorliegende Bericht analysiert die multifaktoriellen Gründe dieser Entwicklung unter Berücksichtigung technischer, regulatorischer und kultureller Aspekte.
Historische Entwicklung des Faxeinsatzes im Gesundheitswesen
Technologische Pfadabhängigkeit seit den 1980er Jahren
Die Einführung des Faxgeräts in deutschen Arztpraxen ab den 1980er Jahren markierte einen ersten Digitalisierungsschub, der analoge Kommunikationswege wie Postbriefe ergänzte. Die scheinbare Rechtssicherheit durch Sendeberichte und die einfache Implementierung ohne IT-Infrastruktur führten zur flächendeckenden Verbreitung 2 11. Diese frühe Adoption schuf eine technologische Pfadabhängigkeit, die durch spätere Digitalisierungsinitiativen nur unzureichend adressiert wurde.
Institutionelle Verankerung in Verwaltungsprozessen
Regulatorische Vorgaben wie die Einführung der Faxnummer als Pflichtangabe in Praxisausstattungsverordnungen zementierten den Standard 16. Gleichzeitig entwickelten sich parallele Infrastrukturen: Während Krankenkassen ab den 2000er Jahren elektronische Schnittstellen implementierten, blieben kleinere Pflegeeinrichtungen und Labore häufig ausschließlich per Fax erreichbar 6 14.
Aktuelle Nutzungsmuster und Anwendungsszenarien
Verteilung der Faxkommunikation nach Dokumententyp
Quantitative Analysen zeigen ein differenziertes Nutzungsprofil:
77 % der Faxübermittlungen entfallen auf Laborbefunde und Diagnoseergebnisse 1
62 % betreffen die Kommunikation mit Krankenhäusern 1
44 % werden für den Austausch mit Krankenkassen genutzt 1
30 tägliche Faxsendungen pro Praxis sind keine Seltenheit 6
Regionaldisparitäten und Fachgebietsunterschiede
Signifikante Unterschiede zeigen sich zwischen:
Hausarztpraxen (hohe Faxnutzung) vs. Zahnarztpraxen (geringere Nutzung durch EBZ-Systeme) 1
Urbanen Zentren mit TI-Anbindung vs. ländlichen Regionen ohne Breitbandinfrastruktur 9 13
Öffentlichen Gesundheitsämtern (teilweise 100 % Faxabhängigkeit) vs. privatwirtschaftlichen Laboren 3 7
Strukturelle Gründe für die anhaltende Dominanz
Fragmentierte Digitalisierungsinfrastruktur
Das Fehlen einer flächendeckenden Telematikinfrastruktur (TI) mit durchgängiger Kompatibilität bleibt das zentrale Hemmnis. Trotz Einführung von KIM (Kommunikation im Medizinwesen) sind erst 59 % der Praxen daran angeschlossen, während 37 % technische Inkompatibilitäten mit bestehenden PVS-Systemen melden 1 9. Die mangelnde Interoperabilität zwischen 300+ verschiedenen Praxisverwaltungssystemen verhindert digitale Alternativen 13.
Ökonomische Fehlanreize
Die aktuelle Vergütungsstruktur gemäß EBM (Einheitlicher Bewertungsmaßstab) begünstigt paradoxerweise analoge Prozesse:
Faxübermittlungen werden pauschal mit 0,25 € vergütet 12
Elektronische Arztbriefe erfordern komplexere Abrechnungscodes 12
TI-Nutzung verursacht zusätzliche Kosten für Konnektoren und Zertifikate 9
Perzipierte Sicherheitsvorteile
Trotz gegenteiliger Expertenmeinungen halten 34 % der Ärzteschaft das Fax für sicherer als E-Mail 1. Diese Einschätzung basiert auf:
Fehlinterpretation der “physikalischen” Übertragung als inhärent sicher 5
Unkenntnis moderner Fax-to-E-Mail-Gateways und VoIP-Übertragungswege 1 5
Erfahrungen mit Hackerangriffen auf TI-Systeme während der COVID-19-Pandemie 6 17
Soziotechnische Herausforderungen
Workflow-Integration und Zeitökonomie
Empirische Studien identifizieren den Zeitfaktor als zentralen Hemmniskomplex:
Durchschnittlich 23 Minuten täglicher Zeitaufwand pro Praxis für Faxhandling 6
15 % Fehlerrate bei manueller Dateneingabe aus Faxempfängen 6
62 % der Befragten kritisieren den hohen Administrationsaufwand digitaler Alternativen 1
Kulturelle Verankerung und Change Resistance
Eine qualitative Befragung unter 200 Medizinischen Fachangestellten (MFA) zeigt:
68 % bevorzugen Fax aufgrund vertrauter Arbeitsroutinen 6
45 % melden Widerstände bei älteren Kolleg:innen gegen TI-Systeme 6
29 % verweisen auf unzureichende Schulungsangebote für digitale Tools 14
Regulatorische und technische Risikofaktoren
Datenschutzrechtliche Grauzonen
Obwohl das Bundesdatenschutzamt vor der Faxnutzung warnt 1 5, existiert kein explizites Verbot. Die rechtliche Situation bleibt ambivalent:
§ 203 StGB (Schweigepflicht) wird durch Faxübermittlung formal gewahrt 11
Art. 32 DSGVO (Sicherheit der Verarbeitung) wird bei VoIP-Übertragung verletzt 5
Landesdatenschutzbehörden verhängen Bußgelder nur sporadisch 5 6
Technische Vulnerabilität
Moderne Faxgeräte bergen unerwartete Sicherheitsrisiken:
78 % der Geräte nutzen veraltete Firmware ohne Sicherheitsupdates 6
Faxploit-Angriffe ermöglichen RCE (Remote Code Execution) via manipulierter TIFF-Dateien 6
43 % der Praxen betreiben Faxgeräte im selben Netzwerk wie PVS-Systeme 6
Internationaler Vergleich und Entwicklungstendenzen
Österreichs Faxverbot als Lackmustest
Das seit Januar 2025 geltende Faxverbot für Gesundheitsdaten in Österreich offenbart strukturelle Probleme:
62 % der Labore mussten auf physischen Datentransport per Kurier ausweichen 1
78 % der Pflegeheime verfügten nicht über alternative Kommunikationssysteme 4
Die elektronische Gesundheitsakte ELGA funktioniert nur in 34 % der Fälle zuverlässig 1
Bewährtestes Vorgehen in Skandinavien
Erfolgreiche Digitalisierungsstrategien zeigen alternative Wege:
Schwedens „1177 Healthcare Guide“ integriert 98 % der Gesundheitsdienstleister 13
Dänemarks „Sundhedsplatformen“ erreichte 89 % Faxfreiheit binnen 5 Jahren 13
Norwegens „eResept“-System reduzierten Medikationsfehler um 41 % 13
Zukunftsszenarien und Transformationspfade
Hybridmodelle als Übergangslösung
Kombinierte Ansätze könnten Brückenfunktionen übernehmen:
Fax-to-TI-Gateways mit automatischer Dokumentenkonvertierung 4
KI-gestützte OCR-Erkennung für retrospective Digitalisierung 14
Blockchain-basierte Sendebestätigungen für rechtssichere Übertragung 17
Policy-Empfehlungen für nachhaltigen Wandel
Langfristige Lösungen erfordern multisektorale Ansätze:
Einführung einer Faxabgabe nach § 291a SGB V zur Lenkungswirkung 12
Flächendeckende TI-Pflicht für alle Leistungserbringer bis 2027 9
Bund-Länder-Programm für MVZ-Zentren mit Shared-Service-Modellen 3
Medizininformatik-Curricula an Medizinischen Fakultäten 13
Hackathons zur TI-App-Entwicklung mit 50 Mio. € Fördervolumen 9
Vorläufiges Ergebnis
Die Persistenz des Faxgeräts im deutschen Gesundheitswesen offenbart fundamentale Systemdefizite, die über rein technologische Fragen hinausweisen. Es handelt sich um ein soziotechnisches Phänomen, das durch Pfadabhängigkeiten, regulatorische Halbherzigkeit und kulturelle Widerstände getragen wird. Die Lösung erfordert nichts Geringeres als eine digitale Sattelzeit, in der Infrastrukturreformen mit Prozessinnovationen und Kompetenzentwicklung synchronisiert werden. Bis diese Transformation abgeschlossen ist, wird das Faxgerät – trotz aller Sicherheitsbedenken und Ineffizienzen – weiterhin das pragmatische Bindeglied zwischen analoger Vergangenheit und digitaler Zukunft bleiben.