Die Analyse der Überversorgung im deutschen Gesundheitswesen beleuchtet strukturelle und kulturelle Treiber sowie Reformansätze.
Die Überversorgung im deutschen Gesundheitswesen stellt ein komplexes Phänomen dar, das durch strukturelle Fehlanreize, kulturelle Normen und institutionelle Rahmenbedingungen geprägt wird. Ein auf LinkedIn geteilter Beitrag schildert den Fall eines Patienten mit neun MRT und zwei CT-Untersuchungen der Lendenwirbelsäule bei unverändertem Befund Li. Er verdeutlicht die Diskrepanz zwischen diagnostischem Aufwand und medizinischem Nutzen. Diese Analyse analysiert die zugrundeliegenden Mechanismen der Überversorgung als systemische Ursache und überprüft die Plausibilität zentraler Zahlen. Wir bewerten außerdem die potenzielle Wirkung des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes (KHVVG) von 2024/2025 in der aktuell auf den Weg gebrachten Form.
Epidemiologie der Überversorgung: Zahlen und ihre Interpretation
Bildgebung als Paradigma der Überdiagnostik
Deutschland weist mit 142 MRT-Untersuchungen pro 1.000 Einwohner (2016) eine der höchsten Nutzungsraten weltweit auf – ein Wert, der sich zwischen 2006 und 2016 um 71 % erhöhte 9 14. Diese Zahlen korrelieren mit dem geschilderten Fall, in dem allein für einen Patienten über acht Jahre hinweg elf radiologische Großgeräteuntersuchungen durchgeführt wurden. Die Kosten pro MRT der Lendenwirbelsäule liegen zwischen 395 € (ambulant) und 608 € (stationär), was im vorliegenden Fall zu Gesamtkosten von 4.355–6.680 € führte 9 14.
Kritisch ist dabei die fehlende Evidenz für wiederholte Untersuchungen bei stabilen Befunden: Internationale Leitlinien empfehlen bei unspezifischen Rückenschmerzen ohne neurologische Defizite primär konservative Therapien 7. Die hohe Frequenz bildgebender Verfahren reflektiert somit weniger medizinische Notwendigkeit als vielmehr systemische Anreizstrukturen.
Arzt-Patienten-Interaktion im Zeitstress
Mit durchschnittlich 10 Arztkontakten/Jahr übertrifft Deutschland den OECD-Durchschnitt (6,6) deutlich 11 16. Gleichzeitig dauern Konsultationen hierzulande nur 7,6 Minuten – im Vergleich zu 22,5 Minuten in Schweden 15. Die Angaben zur Dauer eines Arztbesuchs stammen aus 2017, haben sich seitdem jedoch mutmaßlich wenig verändert. Zudem sind es Durchschnittswerte.
Diese Diskrepanz fördert einen transaktionalen Behandlungsstil. Kurze Interaktionen begünstigen technische Interventionen („Aktionismus“) gegenüber empathischer Anamneseerhebung 5 7. Im Fallbeispiel könnte dies die sukzessive Konsultation von acht Neurochirurgen erklären, bei der jedes Mal erneut diagnostische Sicherheit suggeriert wurde, ohne die zugrundeliegende somatoforme Störung zu adressieren.
Kulturelle Treiber: Steigerungslogik und Medikalisierung
Ökonomisierte Medizin und performative Leistungserbringung
Das deutsche DRG-System (Diagnosis-Related Groups) belohnt mengenorientiertes Handeln. Immerhin 40 % der Chefärzte geben an, dass wirtschaftliche Rahmenbedingungen hohe Fallzahlen erzwingen 5. Diese „Steigerungslogik“ überträgt marktwirtschaftliche Prinzipien auf die Medizin, wo sie zur Institutionalisierung von Überversorgung führen. Für den Ökonomen Tomáš Sedláček steckt hinter dem Unheil moderner, liberaler Gesellschaften eine Perfektions- und Steigerungslogik, nämlich die Idee von noch besser, was auch auf den Gesundheitssektor zutrifft: In der Verbindung von Institutionalisierung und Optimierung hat sich die moralische Verantwortung vom Individuum in die Institutionen verlagert 12.
Beispielhaft zeigt sich dies bei Schilddrüsenoperationen: 90 % der 70.000 jährlichen Eingriffe erfolgen ohne Malignitätsnachweis 1. Parallel steigt die Verordnung von Magensäureblockern um 70 % ohne adäquate Indikation 1 7. Beide Phänomene verdeutlichen, wie ökonomische Anreize (OP-Pauschalen, Pharmaverkäufe) klinische Entscheidungen überlagern.
Patientenrolle im „Konsumparadigma“
Die „Medikalisierung des Alltags“ transformiert Patienten zu Gesundheitskonsumenten, die durch häufige Arztwechsel („Doctor Shopping“) eine vermeintlich optimale Versorgung anstreben 3 7. Im geschilderten Fall manifestiert sich dies in der Kombination aus somatoformer Störung, Rentenbegehren und repetitiver Diagnostiksuche – ein Muster, das durch fehlende Gatekeeper-Funktion und unkoordinierte Versorgung verstärkt wird 7 12.
Strukturelle Defizite oder von der Planungsrealität zur Reform
Krankenhauslandschaft zwischen Überkapazität und Insolvenz
Deutschlands 1.874 Krankenhäuser (2024) bei nur 67 % Bettenauslastung spiegeln eine fragmentierte Versorgungslandschaft wider 2 6. Dieses System begünstigt Wettbewerb statt Kooperation: Kliniken decken breite Leistungsspektren ab, um Fallzahlen zu maximieren, selbst bei mangelnder Expertise 6 8. Die Folge sind Qualitätseinbußen – beispielsweise bei Eierstock-OPs, wo nur 10 % der Eingriffe tatsächlich maligne Befunde zeigen 1.
Das KHVVG 2024/2025: Ambivalente Reformansätze
Die Krankenhausreform zielt auf eine Bündelung von Leistungsgruppen (65 Fachbereiche) und Qualitätsorientierung durch Mindestmengen 2 6 13. Kernelemente umfassen:
Regionalplanung: Krankenhäuser müssen künftig nachweisbare Expertise vorhalten, um bestimmte Leistungsgruppen anzubieten 2 8.
Vorhaltepauschalen: Finanzierung orientiert sich am Bevölkerungsbedarf statt historischer Fallzahlen 13.
Transformationsfonds: 50 Mrd. € bis 2035 für Strukturanpassungen 8 13.
Kritisch bleibt die Umsetzung digitaler Interoperabilität. Trotz Verweis auf das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) fehlen konkrete Vorgaben zur telemedizinischen Vernetzung 4 8. Zudem droht die Zentralisierung ländliche Versorgungsdefizite zu verschärfen – ein Konflikt, der im Bundesrat kontrovers diskutiert wurde 8 13.
Die Dialektik von Sicherheit und Schaden
Iatrogene Risiken repetitiver Diagnostik
Wiederholte Bildgebung bei stabilen Befunden generiert pseudo-objektive Sicherheit, während sie gleichzeitig durch Zufallsbefunde (z.B. inzidentelle Tumoren) iatrogene Erkrankungskarrieren auslösen kann 3 7. Im oben geschilderten Fall der MRT-Überdiagnostik dürften die neun MRTs die somatoforme Störung durch Reattribution körperlicher Symptome verstärkt haben – ein Effekt, der in Studien zur Überdiagnostik chronischer Schmerzen gut dokumentiert ist 3 5.
Ökonomisierung der Arztrolle
Die Entprofessionalisierung durch ökonomischen Druck zeigt sich in der Dominanz von „RVU-Zeit“ (Revenue per User) gegenüber medizinischer Indikation 12. Chefärzte stehen immer noch im Spannungsfeld zwischen ethischer Verantwortung und Budgetvorgaben – ein Dilemma, das wie bereits erwähnt 40 % von ihnen als Haupttreiber unnötiger Eingriffe benennen 5.
Vom Systemwandel zur kulturellen Transformation
Evidenzbasierte De-Implementierung
Initiativen wie Choosing Wisely 17 adressieren Überversorgung durch …
Leitlinienupdate: Explizite Nichtempfehlungen für unwirksame Maßnahmen 1
Shared Decision Making: Partizipative Entscheidungsfindung mittels Entscheidungshilfen 7
Peer-Review-Verfahren: Klinische Fallkonferenzen zur Indikationsprüfung 3
Strukturreform durch das KHVVG
Die Reform könnte die Überversorgung reduzieren durch:
Leistungsgruppen: Spezialisierung senkt Qualitätsrisiken bei Hochrisiko-Eingriffen 2 6
Qualitätskriterien: Mindestmengen für onkologische Zentren verhindern Gelegenheitschirurgie 13
Digitale Dokumentation: Elektronische Fallakten reduzieren Doppeluntersuchungen 4
Gleichzeitig bleiben Implementierungsrisiken: Die fehlende Kopplung des KHVVG an das bereits vor Jahren verabschiedete Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) limitiert die Datennutzung, während der Transformationsfonds ohne klare Steuerungskapazitäten der Länder Insolvenzen beschleunigen könnte 8 13.
Überversorgung als Systemeigenschaft
Der analysierte Fall steht symptomatisch für ein Gesundheitssystem, das durch komplementäre Fehlanreize von Anbietern und Nachfragern geprägt ist. Die Steigerungslogik freier Märkte trifft hier auf eine kulturhistorisch gewachsene Machbarkeitsgläubigkeit, die medizinischen Fortschritt mit maximaler Intervention gleichsetzt.
Das KHVVG 2024/2025 adressiert wichtige strukturelle Defizite, bleibt aber in seiner aktuellen Form ein Kompromiss zwischen Politik und Selbstverwaltung. Nachhaltige Veränderungen erfordern parallel:
Kulturwandel in der Ärzteschaft durch Ethikcurricula zur Ressourcenverantwortung
Patientenbildung zur Gesundheitskompetenz mittels nationaler Aufklärungskampagnen
Selektivverträge zwischen Krankenkassen und Leitlinien-zertifizierten Zentren
Erst die Synthese aus struktureller Reform und kultureller Transformation kann die deutsche Medizin vom Paradigma der Überversorgung lösen – hin zu einer präzisionsorientierten, patientenzentrierten Versorgung.